Herrn M... in L...


Sie wünschen, dass wir Ihnen dazu behilflich sein sollen, einen Führer im Geistlichen zu finden, und man sollte glauben, dass es für Sie ein leichtes wäre, sich selbst einen solchen auszuwählen, da ja, wie bekannt, hier zu Lande kein Mangel an "Seelsorgern" ist. Ein Führer im Geistlichen sollte vor allem zwei Eigenschaften haben, nämlich die aus der innerlichen Erleuchtung hervorgehende göttliche Selbsterkenntnis, und die aus dieser Kraft entspringende Macht der Selbstbeherrschung. Ein Mensch, der weder das in ihm wohnende höhere Licht, und weder seine eigene Natur, noch die Konstitution anderer Menschen kennt, kann weder sich selbst noch anderer richtig beurteilen, und wenn er sich selbst nicht beherrschen kann, wie könnte er anderen durch sein Beispiel den Weg zur Selbstbeherrschung lehren? Allerdings gibt es heutzutage viele, die sich damit brüsten, von verborgenen Dingen und göttlichen Geheimnissen mehr zu verstehen, als andere, und die dadurch zu Ansehen und anderen Bequemlichkeiten zu gelangen suchen; allein selbst wenn solche Personen grosse theoretische Kenntnisse in Bezug auf geistige Wahrheiten besässen (was in der Regel nicht der Fall ist), so ist mit dem blossen Wissen oder der objektiven Betrachtung von geistigen Wahrheiten noch nichts gedient. Um im geistlichen Fortschritte zu machen, handelt es sich weniger um das Betrachten, als um das Sein. Wer die Wahrheit bloss theoretisch kennt, und nicht selbst von ihr durchdrungen ist und in ihr lebt, der ist wie ein Bettler, der von Millionen träumt, aber selbst nichts besitzt.


Goethe sagt: "Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch handeln. Versuche Deine Pflicht zu tun, und du weisst gleich, was an dir ist."
Wer den Geist der Selbsterkenntnis nicht besitzt, kann ihn auch niemandem mitteilen. Solche "Führer" können wohl träumen und schwärmen und von Dingen faseln, von denen sie gehört oder gelesen haben, aber die sie selbst nicht aus Erfahrung kennen; ihre Worte haben keine Kraft, weil sie nur Ihrer Phantasie und nicht dem eigenen Selbstbewusstsein entspringen, und Ihre Taten mit Ihren Worten nur zu oft im Widerspruch sind. Sie gehören zu jenen "falschen Hirten", die durch die Hintertüre der intellektuellen Spekulation in den Schafstall gedrungen sind, anstatt durch den geraden Weg der Selbsterkenntnis (in kirchlicher Sprache die "Gnade Gottes" genannt) darin einzugehen.

Um zu dieser Führerschaft zu gelangen, "dazu bedarf es," sagt Jane Leade, einer besonderen Einsetzung, die nur denen zu teil werden kann, die vorher in der brennenden göttlichen Liebe (die göttliche Weisheit) geläutert sind, und es möge jeder gewarnt sein, sich vermessentlich in dieses heilige Amt zu drängen, ehe der Melchisedech-König (der erleuchtete innere Geistmensch) in seiner echten, ewigen, geistigen Geburt in der Seele ersteht."

Ohne Zweifel gibt es auch unter den Dienern der Kirche solche, die Diener Gotte, d.h. vom Lichte der göttlichen Weisheit erleuchtete Menschen sind; aber sie dürften unter der Geistlichkeit vielleicht gerade deshalb am schwierigsten zu finden sein, weil dieselbe, wie die Beobachtung lehrt, an gewisse Dogmen, Glaubensartikel und Formen gebunden ist, welche dem Zustandekommen der innerlichen Erleuchtung und Selbsterkenntnis der Wahrheit hinderlich ist, weshalb auch die meisten "Seelsorger" heutzutage mehr Moralprediger als wirkliche Heilige sind.

Unter diesem Umständen dürfte es wohl schwierig für Sie sein, einen echten geistigen Führer, sei es innerhalb oder ausserhalb der Kirche zu finden; jedoch steht die Sache nicht so schlimm, denn der wahre geistige Führer ist geistiger Natur, und einen solchen Führer im Geistigen hat jeder Mensch bei seiner Geburt als Geburtstagsgeschenk bekommen und trägt ihn immer bei sich; wenn auch die wenigsten es wissen und nicht erkennen, dass, um mit dem Apostel zu sprechen, der Mensch ein Tempel Gottes ist, und dass der Geist Gottes in ihm wohnt.

Dieser innere Führer gibt uns täglich und stündlich seine Lektionen, aber wir befolgen sie nicht, sondern suchen nach äusserlichen Befriedigung unserer Neugierde. Wir beachten die Nahrung, die uns geboten wird, nicht, sondern verlangen nach dem, wofür wir noch nicht reif genug sind.  Würden wir die Offenbarungen, welche wir vom Geiste, der in uns waltet, erhalten, beachten uns seine Lehren befolgen, so würden wir immer noch mehr bekommen, und auch der äussere Führer würde sich finden, wenn es nötig wäre; denn es ist ein geistiges Gesetz in der Natur, dass keine Leere vorhanden ist. (Non est vacuum in natura.) Wo ein geistiges Bedürfnis wirklich vorhanden ist, da kommt die Erfüllung; wo nichts hinderlich im Wege steht, da dringt der Geist Gottes von selber hinein. Wenn der Mensch sich vom Äusserlichen und Niedrigen abwendet und das höhere Selbstbewusstsein in sich erwachen lässt, so tritt mit diesem geistigen Selbstbewusstsein auch eine innere geistige Wahrnehmungsfähigkeit ein, und er kann dann in Verbindung mit den Seelen von Menschen treten, welche auf einer ähnlicher geistigen Stufe stehen, und diese geistige Verbindung kann zu einem persönlichen Bekanntwerden der Betreffenden führen, was durch zahlreiche Vorkommnisse dieser Art hinlängliche bewiesen ist.

Ein äusserlicher Führer könnte für Sie nichts anderes tun, als Ihnen den Weg zur Selbsterkenntnis angeben; sie müssten Ihn aber selber gehen, sonst kämen Sie nicht zum Ziele. Dieser Weg aber ist in allen mystischen Schriften, in der Bhagavad Gita sowohl al in Thomas von Kempis beschrieben, und auch die "Lotusblüten" haben keinen anderen Zweck als dazu beizutragen, die Irrtümer, welche sich der Erkenntnis dieses Weges entgegenstellt, beiseite zu schaffen. Eckhart sagt: " Wie die Sonne mit ihrem Schein die ganze Welt überstrahlt; sie werde denn von dem Gewölke gehindert; so scheint die Gnade des heiligen Geistes (die Wahrheit)  in aller Menschen Herzen, sie werde denn von seinen Sünden (falsche Vorstellungen und falsche Willenstätigkeit) gehindert, und sie wirkt unwiderstehlich, wo sie ohne alle äusserliche Vermittlung in das empfängliche Herz einspricht und das Herz sie versteht und willig aufnimmt. Alles äusserliche Lehren ist eine Lockung zu Gott."

Das blosse Wissen ohne die Tat hat keinen praktischen Wert. "Grau, teurer Freund, ist alle Theorie!" und wir würden uns bedanken, an das Verfassen der " Lotusblüten" auch nur eine Minute Zeit zu verwenden, wenn dieselben nur dazu dienen sollten, den Wissensdurst derjenigen zu befriedigen, die gern alles wissen möchten, dabei aber nichts tun.

Für die Erlangung einer richtigen Weltanschauung, dazu ist für diejenigen, welche danach begehren, durch die alte und neue theosophische Literatur hinlänglich gesorgt; was aber das praktische betrifft, so besteht dies in der Kunst der Selbstbeherrschung, und diese Kunst, wie jede andere, kann nur dadurch erlangt werden, dass man sie übt.  Wer einen geistlichen Führer haben will, der muss ihn sich selber verdienen, und er verdient in dadurch, dass er sich ernstlich bemüht, die Lehren, welche er bereits erhalten hat, zu befolgen. Um geistig selbständig zu werden, oder mit anderen Worten, um Festigkeit des Charakters und geistige Tugenden (Kräfte) zu erlangen ist es nötig, alles dasjenige von sich fern zu halten, was der Erfüllung dieser Absicht entgegenwirkt. Es handelt sich deshalb vor allem darum, alle eitlen, unnützen, unreinen und unordentlichen Gedanken , Wünsche und Begierden von sich fern zu halten, ihnen Zutritt zum Gemüte zu verwehren, und sie nicht im Willen Wurzel fassen zu lassen. Erst wer den ersten Schritt getan hat, kann den zweiten machen, und ist er dazu bereit, so wird ihm der Führer nicht fehlen. Dazu gehört aber zuallererst ein fester Entschluss. Ist dieser Entschluss einmal gefasst, so handelt es sich darum, in ihm Beständigkeit und nicht wankelmütig zu werden und um diese Beharrlichkeit zu erreichen, dazu ist es zweckmässig, sich täglich selbst daran zu erinnern,; nicht bloss, indem man den stillen Wunsch hegt, seiner eigenen höheren Natur treu zu bleiben, sondern indem man sich selber in innerlich gesprochenen Worten dazu ermahnt, und diese innerliche Kundgebung des Willens durch das Wort ist das wahre Gebet, eine Bekräftigung des Geistes, aus welcher die Tat entspringt.

Zu diesem Zweck wiederholt sich derjenige, dem es mit seinem Christentum ernst ist, täglich die in seinem Namen bei seiner Taufe gegebenen Versicherungen, dass er der Welt und Ihren Lüsten entsage usw. Zu diesem Zweck erinnert sich der Mohammedaner täglich daran, dass Gott der Eine und alles in allem ist, indem er sich sagt:

                                                                        "Al-la-ho sami`un
                                                                         Al-la-ho baswirun!
                                                                         Al-la-ho alimun!
                                                                         Al-lah! - Al-lah! - _Al-lah!
                                                                         La-il-la-ha, il-lal-la-ho"

D.h. Gott der Allhörende, Gott der Allsehende, Gott der Allwissende ist ein einziger Gott! Zu diesem Zweck spricht der Brahmine das heilige Om, welches für ihn das wahre ewige Sein bedeutet, und der Buddhist wiederholt sich von Andacht die Formel :

                                                                    Buddham Saranam gachhàmi!
                                                                    Dahmmam Saranam gachàmi!
                                                                    Sangham Sraranan gachàmi!

D.h. ich nehme Buddha (die personifizierter Weisheit), das Gesetz (des Geistes im Weltall) und die Ordnung (Kirche) der Heiligen (Erleuchteten) zu meinem Führer. Der äussere Mensch,(Adam) ins seinem falschen Wahne lebt wie in einem Traumleben, wie in einem Zustand des Hypnotismus befangen, hält die Welt um sich selbst für etwas, das es nicht ist, und erkennt deshalb nicht, was sie in Wahrheit sind. Aus diesem Grunde muss er, nicht wie behauptet wurde, sich selbst noch mehr hypnotisieren, sondern vielmehr danach trachten, sich durch die Stimme der in ihm ins Leben tretende Wahrheit, sich aus einem Zustande des Scheinbewusstseins zu seinem wahren Selbstbewusstsein aufwecken lassen; er muss geistig erwachen, damit er seine eigene göttliche Menschennatur, d.h. Gott (Christus) , in sich selber erkennt. Ohne diese hat das Studium der Mystik keinen Zweck, und ist aller auf Befriedigung der Neugierde gerichtete Mysticismus ein krankhafter Auswuchs der Menschennatur und eine zwecklose Spielerei.