Briefkasten 1

 

Dr. Franz Hartmann

 

                                                  

Lotusblüten 1893 1. Semester, Briefkasten Seiten 484 bis 488

 

L.E.inE. Sie wünschen zu wissen, ob es mit Ihrem geistigen Fortschritte vereinbar wäre, wenn Sie sich verheirateten. Wir können Ihnen nichts Besseres raten, als in aller Gemütsruhe in Ihrem eigenen Innersten sich die Antwort zu holen. Was aber das Glücklichsein in der Ehe betrifft, so hat nach unserm Dafürhalten niemand den Nagel besser auf den Kopf getroffen, als E. Geibel, indem er sagt:

 

„Nur das vermag mit festerm Erz

In Freundschaft zwei Genossen binden,

Wenn Geist und Geist sich, Herz und Herz

In einem höhern Dritten finden.“

 

Je nachdem dieses Ideal, welches den Beteiligten vorschwebt, ein dauerndes oder vergängliches ist, und je nach dem Grade, in welchem sie dasselbe verwirklichen können, ist auch das Glück von längerer oder kürzerer Dauer. Wenn das „höhere Dritte“ nur die Befriedigung der Sinne ist, so dauert der Spass in der Regel nicht lange und auf den Genuss folgt der Abscheu, ungefähr so, wie es Leo Tolstoi be-

schrieben hat. Ist das Ideal Gewinnsucht und wird das Gewünschte dabei erlangt, so kann ein derartiges „Glück“ verhältnismässig lange dauern. Eine geizige Frau z.B. heiratet einen Wucherer, und dieselben leben gut miteinander, solange sie gute Geschäfte machen. Alle derartigen Ideale aber sind vergänglich. Wer das Bewusstsein der Unsterblichkeit erlangen will, muss nach einem unsterblichen Ideale trachten und dasselbe in sich zur Verwirklichung gelangen lassen, d.h. er muss nichts thun, was die Verwirklichung dieses Ideals in ihm hindert. Es zu verwirklichen, dafür kann er nichts Positives thun, denn das höchste Ideale ist kein Erzeugnis des Menschen, es stammt vom Himmel, und(= S.484) wo keine Hindernisse vorhanden sind, da verwirklicht es sich ohne menschliche Hilfe von selbst.

 

Herr T.v.G. In M.  Sie glauben bemerkt zu haben, dass wir der Wissenschaft nicht „besonders hold sind“, aber Sie irren sich. Es giebt für den Menschen ausser dem Wissen nichts Höheres, als die Erkenntnis. Dasjenige, was wir verabscheuen, ist nicht das wahre Wissen, sondern das unter der Maske der Wissenschaft in seinem Eigendünkel sich aufblähende Nichtwissen, welches, um mit Goethe zu sprechen, mit gieriger Hand im grob Materiellen nach Schätzen gräbt und die Regenwürmer, welche es findet, für die höchstmögliche Errungenschaft hält, wobei es mit selbstgefälligem Lächeln auf jeden herabsieht, der für sich selber zu denken wagt. Dieser auf Borniertheit beruhende Grössenwahn ist keine Wissenschaft, wenn auch die damit Behafteten sich als die Repräsentanten derselben gerieren und vom grossen Haufen dafür gehalten werden.  Um Beispiele vorzuführen, erinnern wir Sie nur an die „Erklärung der Pariser Akademie der Wissenschaften“, derzufolge kein Meteorfall stattfinden könne, „weil keine Steine im Himmel seien“- an das Hohngelächter, welches in der Gelehrtenwelt der Morse'sche Antrag, eine Telegraphenlinie zu bauen, erregte, - an die Opposition, welche der Vorschlag, Dampfschiffe zu bauen, erfuhr, usw..  Auch ist es noch nicht lange her, seit die „technische Hochschule“ in B...offiziell erklärte, dass der Vorschlag, eine Eisenbahn zu bauen, ein Unsinn sei, da die Räder sich wohl um ihre Achse bewegen, aber die Wagen nicht zur Vorwärtsbewegung bringen könnten.

 

An allen solchen Dingen trägt aber nicht die Wissenschaft, sondern vielmehr die Nichtwissenschaft, verbunden mit den Schwachheiten der menschlichen Natur, die Schuld. Diese menschliche Natur hat sich auch in der Gelehrtenwelt während dieses Jahrhunderts nicht besonders geändert, nur steht die Wissenschaft jetzt anderen Problemen gegenüber. (=S.485)

Auch heutzutage giebt es Gelehrte, welche tiefes Wissen besitzen, und andere, deren Wissen nur oberflächlich, deren Grössenwahn aber unendlich ist. Diese verhalten sich in Bezug auf die in der Menschennatur latent enthaltenen geistigen Kräfte ebenso, wie ihre Vorgänger in Bezug auf Meteore und Eisenbahnen. Diese Ignoranz und Intoleranz ist aber die Folge eines für die Menschheit sehr wohlthätigen Naturgesetzes, demzufolge ein Mensch keine höheren Kräfte kennen und anwenden kann, solange er nicht durch eine eigene höhere Entwicklung in den Besitz derselben

gelangt ist. Wäre dies nicht der Fall und könnten „Materialisten“ und „Rationalisten“ mit geistigen Kräften experimentieren, so ginge das ganze Menschengeschlecht bei ihren Experimenten zugrunde, denn ein derartiger wissbegieriger, auf die Befriedigung seiner wissenschaftlichen Neugierde erpichter Narr findet kein Opfer zu gross, das er seiner „Wissenschaft“ bringt, besonders wenn es ihm selbst nichts kostet.

                     

    „So ein verliebter Narr verpufft

             Euch Sonne, Mond und alle Sterne

                Zum Zeitvertreib dem Liebchen in die Luft.“

                                                                                         („Faust“)

 

 

Herren J.v.F., B.v.D. in W. u.A. eine Entgegnung der oft widerlegten, von dem Londoner Korrespondenten der Wiener „N.F.P.“ in jenem Blatte wiederholten Verkehrtheiten über Dinge, von denen ihm nicht einmal die Anfangsgründe bekannt sind, wäre nutzlos. Ein Narr kann auf einer Seite mehr falsche Behauptungen aufstellen, als ein Weiser auf tausend Seiten berichtigen kann.  Gegen diesen Ahlwardtismus giebt es kein anderes Mittel, als die Geduld.

 

 

 

 

 

Herrn E.F. In Mt. L.N.Y. Ihr Entschluss sich mit dem Studium der höheren Mathematik und Metaphysik zu beschäftigen, ist sehr lebenswert; ein reichhaltiges Wissen schadet nie. Nur müssen Sie die Bereicherung des Wissens nicht mit der Erlangung der göttlichen Selbsterkenntnis ver-                           (=S.486)

wechseln.  Das Wissen ist der Vorhof des Tempels, die Erkenntnis das Heiligtum, und wie man durch ein ewiges Umherwandern im Vorhofe nie in das Heiligtum gelangt, so dient auch die Wissenschaft nur dazu, uns das Thor zum Eingang zu zeigen; die blosse Betrachtung führt uns aber nicht hinein. Es verhält sich mit den intellektuellen

Errungenschaften in Bezug auf die göttliche Weisheit, wie mit äusserlichem Besitz und reichhaltigem Wissen. Eine gesunde Kost ist für die Entwicklung des Verstandes zuträglich, aber auch die beste Fütterung bringt für sich allein keinen Verstand zuwege. Desgleichen ist eine richtige Lebensanschauung, wie man sie durch wahres Wissen erlangt, dazu dienlich, die Irrtümer zu zerstreuen, welche sich der Selbsterkenntnis der Wahrheit in den Weg stellen, die Vielwisserei aber kann die Lotusblumen der Weisheit nicht zur Entfaltung bringen, sondern dient eher dazu, ihre Entwicklung zu hindern. Die Vielwisserei sieht bloss die einzelnen Teile des Ganzen, erkennt aber nicht das Ganze;  die Weisheit erkennt das Ganze in allen einzelnen Teilen.

 

Goethe sagt:

„Willst du dich am Ganzen erquicken,

So musst du das Ganze im Kleinsten erblicken.“

 

Das Ganze wird aber nur durch den Menschen als Ganzes erkannt, nicht mit dem Kopf allein, der bloss spekuliert, noch mit dem Herzen allein, das zur Schwärmerei geneigt ist, sondern durch die Offenbarung der Wahrheit in Gefühl und Verstand. Um zu dieser Offenbarung zu gelangen, dazu bedarf es keiner Metaphysik und Mathematik. Sie kann nicht bei den Haaren herbeigezogen werden, sie ist frei und erzeugt sich im Menschen von selbst und aus eigener Kraft. Der „Vater der modernen Theologie“, Meister Eckhart, hat dies erkannt und er sagt deshalb: „Der Mensch kann nichts Positives thun, um die Geburt des Sohnes Gottes in der Seele zuwege zu bringen. Thue alles von dir weg, was nicht Gott ist, und es bleibt dann Gott allein

(=S.487)   übrig. Gott ist die Einheit der Lauterkeit. Streife ich die Vielheit und Unlauterkeit ab, so zwinge ich Gott, bei mir einzukehren. Du kannst nicht  der Sohn Gottes (in welchem wir alle Eins sind) sein, ohne dass du dasselbe Wesen Gottes hast, wie es der alleinige Sohn hat, so wenig, als man weise sein kann ohne die Weisheit.“

(38, 25 .) Die Erlangung der Freiheit im Unendlichen und Ewigen ist bedingt durch das Verlassen von allem, was die Seele an das Beschränkte und Vergängliche bindet.

 

 

 

 

 

 

G.B.F in L. Die „Theosophische Gesellschaft“ kann als solche keine Glaubenssätze annehmen, weil zu einer freien Forschung Freiheit des Urteils gehört. Sie kann keiner Dogmatik huldigen, weil sie das Studium der vergleichenden Theologie betreibt und deshalb an kein besonderes System gebunden sein darf. Wenn verschiedene Mitglieder sich mit der Untersuchung des Spiritismus u. dergl. beschäftigen, so geschieht dies deshalb, weil sie die Gesetze, auf welchen dergleichen Dinge beruhen, kennen lernen wollen. Die Theosophie ist eine Universalwissenschaft und es ist kein Grund vorhanden, weshalb man bloss materielle Erscheinungen studieren und psychische Phänomene ausschliessen sollte. Um Spiritismus zu studieren, braucht man aber kein Spiritist zu sein, ebensowenig, als man, um Geisteskrankheiten zu studieren, selber geisteskrank zu sein braucht.

 

M.G. in F.  Sie können sich darauf verlassen, dass es in Europa keine echte Rosenkreuzer-Gesellschaft giebt, welche diesen Namen trägt. Die Selbsterkenntnis kann  nur durch geistiges Wachstum, nicht aber durch „Diplome“ erlangt werden. Ein Heiliger würde schwerlich ein schriftliches Zeugnis verlangen, um zu beweisen, dass er heilig sei. Die „geheimen Zeichen“, an denen man den echten Rosenkreuzer erkennt, sind ganz anderer Art. Sein Zeugnis liegt in seinem Wissen und in seinem Thun.               

 

 Besten Dank für Deine Unterstützung Ellen!

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