Prentice Mulford "Einer, der es wagt" Herausgegeben von K.O.Schmidt

Auszug : "Über das Seelenleben"
Ich unterscheide des besseren Verständnisses halber eine "Leibseele" und eine "Geistseele".  Der höhere dieser beiden Teile, die Geistseele, steht dem Körper vollkommen selbständig gegenüber. Sie ist nicht aus dem Körper hervorgegangen, ihr Verhältnis zu ihm gleicht vielmehr dem des Handwerkers zu Werkzeug.

Gehirn und Geistseele sind also zwei ganz verschiedene Dinge: den Gehirnvorgängen gehen seelische Vorgänge parallel oder voraus, nicht aber gehen umgekehrt allen seelischen Vorgängen entsprechende Gehirnvorgänge parallel.  Das Gehirn ist ein Mittel der Geistseele, sich mit der physischen Welt in Verbindung zu setzen und auf sie einzuwirken.

Diese Geistseele ist das, was ich als mein "Höheres Selbst" erlebe: nicht mein Bewusstsein, sondern ein jenseits desselben liegendes, bewusst und mit Absicht aus dem Meer des Bewusstseins bestimmte Gedanken Auswählendes. Es ist das Wirksame, das Wirkende, das Wirkliche; das Bewusstsein ist nur das Gewirke, das Gewirkte, das Werk des Selbstes. Der Wirker ist das überbewusste, zeitlose höhere Selbst: die Geistseele.

Ihr gegenüber steht das "niedere Ich": die Leibseele. Während diese sozusagen erst seit "heute" mit meiner Geburt, existiert, ist die Geistseele im Laufe der Zeitalter immer stärker geworden."

"Ich fange an, Sie zu verstehen", sagte die Frau des Hauses langsam. " Aber zugleich werfen Sie neue Fragen auf. Wenn es nicht unbescheiden ist, möchte ich Sie bitten, uns dieses Gegenüber von Geistseele und Leibseele etwas genauer zu erklären."

"Das höhere Selbst, die Geistseele, ist voll schöpferischer Ideen und Inspirationen, die es vom undendlichen Geist des Lebens empfängt. Es birgt Kräfte und Möglichkeiten, gewaltiger, als der Mensch sich heute kennt und beherrscht. Und es weiss um diese Kräfte.- Das niedere Ich dagegen meint, dass wir in aller Ewigkeit genau so weiterleben und sterben müssten, wir die Menschen bisher lebten und starben.



Das höhere Selbst verlangt nach Erlösung aus Nichterkenntnis, Begrenzung, Schmerz und  Unvollkommenheit des Leibes.- Das Ich meint, dass diese Dinge unvermeidlich sind.

"Von den Achseln Dir schiebe, was über Dir scheint, und richte Dich selbst nach Dir selber!", heisst ein Wort unserer Väter. Es fordert, dass das Ich sich nach dem höheren Selbst richte. Erst wenn der streit der zwei Seelen in uns in diesem Sinne entschieden ist, endet unsere Not. Aber die meisten erkenne diese Aufgabe nicht, weil sie nur dem glauben was sie sehen.

In Wirklichkeit ist aber das, was wir von den Dingen-Bäumen, Tieren, Steinen, Menschen oder Sternen - wahrnehmen, nur ein Teil von ihnen. Was wir nicht sehen, ist die innere Kraft, die diesen Dingen und Wesen eine zeitliche Form gab und diese Form für eine Weile erhält. Die innere Kraft - der Geist des Lebens - ist es zugleich, die unaufhörlich die Wandlungen aller Formen, aller Organismen, bewirkt, so dass kein Lebendiges die gleiche Gestalt behält.

Die individuelle Offenbarung dieser Kraft ist die Geistseele. Je lebendiger wir diese Geistseele in uns wirken fühlen, je mehr der inneren Kraft - wir zur Betätigung bringen, desto umfassender wird unser Erkenntnisvermögen, desto eher beginne wir die Welt mit den Augen der Seele zu sehen."


"Könnten Sie uns diesen Unterschied noch etwas  deutlicher machen?" fragte die Hausfrau ihren Gast.

"Gern", antwortete Prentice." "Wie ich schon sagte, erblickt die Geistseele im Körper ein brauchbares Werkzeug, um erfolgreich auf die Stoffwelt einzuwirken und das irdische Leben zu meistern. Im Gegensatz zur Leibseele, die im Vergehen des Körpers das Ende allen Seins erblickt, sieht die Geistseele im Tode des Leibes nur das Ablegen eines unbrauchbar gewordenen Kleides. Sie weiss, dass sie nach wie vor da ist, und hält alsbald Umschau nach einem neuen Werkzeug.

... Ebenso wähnt die Leibseele, Kraft sei ein Produkt der Muskeln, während die Geistseele weiss, dass alle Kraft, auch die der Muskeln, aus dem Geist kommt und aus dem Willen.

Die Leibseele meint weiter, ohne den Gebrauch der Zunge, der Glieder oder materieller Hilfsmittel sei es unmöglich, auf andere Wesen einzuwirken. Die Geistseele weiss, dass ihre Gedanken auf andere Geschöpfe Wirkungen ausüben-nachhaltiger als jedes Wort und jede andere Äusserung oder Materialisation von Gedanken.

Die Leibseele glaubt nicht, dass Gedanken so wirklich sind wie Ziegelsteine oder Sauerstoff. - Die Geistseele weiss, dass jeder einzige der tausend heimlichen Gedanken des Tages eine Kraft und eine Macht ist, die auf das Schicksal des Denkers einwirkt. Sie weiss weiter, dass alle Materie nur eine Ausdrucksform des Willens ist: gefrorener Geist, kristallisierter Gedanke, und dass jeder Gedanke früher oder später in ihm entsprechend Wirklichkeit schafft.

Die Leibseele hält die Materie für das Wichtigste in der Welt. - Die Geistseele weiss, dass die materielle Welt nur den kleinsten Teil der Wirklichkeit, der undendlichen Reiche des Seins bildet. Die Leibseele trauert ob des Vergehens der äusseren Formen und schreckt vor Schmerz und Tod zurück. Die Erde erscheint ihr in dunklen Stunden als ein betriebsames Leichenhaus, in dem die Freude keine gesicherte Heimatstatt hat. - Die Geistseele weiss, dass der Wandel der Formen, Schmerz und Tod ihren Beistand nicht berühren. Sie empfängt ein neues Kleid für das alte, mit besseren Sinnen, neuen Kräften und höheren Wonnen........ Und sie weiss, dass Freude das grosse Ziel alles Lebens ist - Freude, die Dauer hat und nicht neues Leid gebiert. Sie öffnet sich den höheren Kräften des Lebens, die das All durchfluten, und wächst in einem fort, während die Leibseele vergeht......

Das ist wohlgemerkt, allgemein gesprochen. In jedem Menschen ist das Verhältnis von Leibseele zu Geistseele ein wenig anders, entsprechend seiner seelischen Reife. Bei den meisten scheint die Geistseele noch zu schlummern; bei manchen hat sie begonnen, sich zu recken und sich die Augen zu reiben; bei anderen ist sie schon voller erwacht, sie fühlt bereits Kräfte in sich wirken, die vorher nicht vorhanden schienen.

Bei solchen Menschen setzt bereits der Kampf zwischen Geistseele und Leibseele ein, der nach lebenlangem schmerzlichen Hin und Her schliesslich mit dem Sieg der Geistseele und dem endet, was man als "Wiedergeburt aus dem Geiste" bezeichnet.

Solange die die Leibseele nicht von den Wahrheiten, die die Geistselle ihr vermittelt, überzeugt und durchdrungen ist, steht sie  mit dieser in ständigem Kleinkrieg. Die Leibseele wehrt sich zumeist aufs heftigste dagegen, liebgewordene Denk- und Tatgewohnheiten als falsch anzusehen und aufzugeben. In jedem Falle kostet die notwendige Wandlung manchen Kampf.....

..... Um uns herum sehen wir überall Menschen, in denen die Leibseele noch herrscht. Es sind jene, die am Alten hängen, nichts Neues hinzulernen, nicht in neue seelische Heimstätten übersiedeln wollen, sondern an den alten Wohnungen mit dem vertrauten Gedanken-Hausrat hänge. Solche Menschen irren furchtbar. Folgend sie nicht im Guten, braucht das Leben Gewalt, und das ist in der Regel schmerzhaft, zumal sich das Leben hierbei Zeit lässt - bis der Mensch schliesslich merkt, worauf das Leben hinauswill und dem Ruf des Lebens folgt. 

In diesem Augenblick weicht der Schmerz, die eben noch dunkle Welt wird strahlend hell und as Leben lächelt den Menschen an und erkundigt sich freundlich:"+ Warum nicht gleich?"
Ungern nur hört die Leibseele hin, wenn die Geistseele ihr rät:
"Wenn Du Schmerzen und Krankheiten loswerden willst, dann richte Dein ganzes Denken, Fühlen und Wollen vertrauend auf den unendlichen Geist des Guten, von dem alles Leben kommt, und bejahe mit aller Insbrunst des Glaubens das Kommen von Gesundheit, Kraft und Fülle. Dann wird alles gut."

"Unsinn" - wird die Leibseele in der Regel antworten -, wenn der Körper krank ist, brauche ich Heilmittel, die ich sehen und fühlen kann, nicht so luftige Dinge wie die Gedanken. Was ich denke, ist gleichgültig; entscheidend ist, was für handgreifliche Hilfe ich anwende."

... Und in diesem Wahn lebt die Leibseele weiter, bis sie durch die wachsende Not aufgerüttelt, zum Nachdenken, zum Erkennen tiefer Zusammenhänge und zur Einsicht getrieben wird, dass sie sich bisher falsch verhielt....

... Allmählich wird sie bereit, die Wahrheiten aufzunehmen, die die viel weiter blickende Geistseele ihr als Heilmittel anbot. Und wenn die Umstellung, die sie nun, zögernd zuerst, halb zweifelnd und halb hoffnungsvoll, vornimmt, die erwarteten Erfolge bringt, beginnt sie, Vertrauen zur Geistseele zu gewinnen und er Führung von innen zu folgen...... Sowie aber die Geistseele einmal die Herrschaft übernommen hat, ist der Fortschritt unaufhaltsam.


Einem solchen Menschen strömt Kraft in wachsender Fülle zu, die ihn befähigt, seine Unternehmungen erfolgreicher durchzuführen und in immer höhere Reiche der Macht, der Fülle des Glückes aufzusteigen. Diese Entwicklung geht ohne Selbstkasteiung vor sich, ohne Vergewaltigung des Körpers und der Sinne.

Wirkliche geistige Wandlung hat mit asketischen Perversionen, die höchstens zu Wahnideen führen, nicht gemein. Leib und Seele werden wahrhaft eins, und damit wird das Leben ein sieghaft-kühnes Vorwärtsschreiten von den Freuden des heutigen Tages zu den grösseren Freuden von morgen, und immer offenbarer wird die grosse Wahrheit, das Leben nichts anderes gedeutet als immerwährende Freude."