Mit dieser Nummer beginnt der fünfte Jahrgang der "Lotusblüten.".

Dieselben waren ursprünglich nur für einen kleinen Kreis von Lesern bestimmt, welche dieselbe Richtung mit dem Verfasser verfolgten, d.h. sich nicht mit leeren Theorien und Äusserlichkeiten begnügen, sondern auf dem Wege der Tat selber in das geheimnisvolle Gebiet der Mystik und Theosophie eindringen wollten, zu welchem es keinen
  
anderen Eingang gibt, als das Tor derjenigen Selbsterkenntnis, welches als die selbstlose Liebe und Selbstüberweidung bezeichnet wird. Allmählich erweitere sich dieser Kreis und die zahlreichen dankerfüllten Zuschriften, welche der Verfasser erhielt, leben ein Zeugnis dafür ab, dass seine Tätigkeit keine nutzlose und das Erscheinen einer deratrigen Literatur ein öffentliches Bedürfnis war.

 Für diejenigen, welche die Gegenwart einer geistigen Kraft in sich selbst nicht empfinden, von einem höheren, als dem erdgebundenen Dasein nichts wissen wollen, den Glauben an ein höheres Ich und dessen Unsterblichkeit als einen Aberglauben verwerfen, das Vorhandensein eines geistigen Selbstbewusstseins als nicht "wissenschaftlich bewiesen" leugnen und, mit vom Lichte abgewandtem Gesichte im Staube liegend, den Staub anbeten und das Licht, das sie nicht kennen, verachten, wurden die "Lotusblüten" nicht geschrieben.

Ebensowenig werden diejenigen ein Interesse an dem Inhalte derselben finden, welche glauben, dass die Theosophie darin bestehe, sich über Spukgeschichten zu unterhalten oder sich über die Möglichkeit metaphysischer Phänomene oder deren Ursachen mit den Philosophen zu streiten. Zu glauben, dass diese oder jene Begebenheit auf Betrügerei, Taschenspielerei oder auf Gesetzen, die wir nicht kennen, beruht, hat mit der Entwicklung unserer eigenen Selbsterkenntnis nichts zu tun, da diese ja nicht vom Glauben, von dieser oder jener Autorität, sondern von unserem eigenen Besitz der Fähigkeit, unsere eigene Natur und deren Kräfte zu erkennen, abhängig ist. Die Menschen sind aber heutzutage so sehr darauf abgerichtet und daran gewöhnt, nach allem anderen zu suchen, als nach ihrem eigenen wahren und unsterblichen Selbst, das doch für sie das wichtigste von allem wäre, dass nur verhältnismässig wenige es zu erfassen vermögen, was man eigentlich unter Selbsterkenntnis versteht.

Am allerwenigsten aber sind die "Lotusblüten" dazu bestimmt, den Ansichten irgend einer Sekte zu huldigen, oder den selbstsüchtigen Bestrebungen von Personen, denen es um die Befriedigung ihrer Eitelkeit oder um das äusserliche Ansehen ihrer Körperschaft zu tun ist, Vorschub zu leisten. Der Verfasser erkennt in jedem, der nach der geistigen Erkenntnis der Wahrheit strebt, seinen Mitarbeiter und Begleiter auf dem Wege des Lichts;  aber wenn es bloss um die Befriedigung der Herrschsucht oder des Grössenwahns, um das Anhängen an Autoritäten oder Stillung der wissenschaftlichen Neugierde zu tun ist, der mag sich einem wissenschaftlichen oder philosophischen Vereine, einer Kirche oder einem Dogma anschliessen; mit der Theosophie im wahren Sinne dieses Wortes hat er nicht zu tun. In solchen Vereinen verfolgt jeder einzelne seinen eigenen selbstsüchtigen Zweck; es existiert in denselben deshalb entweder gar keine einheitliche Grundlage, oder, wo eine solche vorhanden ist, ist es nur eine gemeinsame Illusion; sei dieselbe nun religiöse Schwärmerei, philosophischer Zeitvertreib oder metaphysische Spekulation; den in allen diesen Fällen handelt es sich nur um die Befriedigung der selbstsüchtigen Begierde nach eigenem Wohlbefinden, eigenem Wissen und Können; um sie Sättigung der Begierde des eigenen Selbsts, welches Selbst mit allem was daraus entspringt doch nichts anderes als eine fortlaufende Täuschung ist.

Der wirkliche "Theosoph", d.h. der Mensch welcher zur Selbsterkenntnis gelangt ist, braucht "zur Förderung seines Fortschrittes" keine "Gesellschaft" und keinen "Verein" . Er steht auf eigenen Füssen uns sucht in nichts anderem seine Zuflucht, als in der Erkenntnis der Wahrheit. Er verlangt auch nicht danach, "sein eigenes" Wissen und Können zu fördern, sondern er weiss, dass gerade jenes "Selbstgefühl" dessen Stärkung sich die meisten Menschen so sehr anlegen sein lassen, im geistigen Fortschritte das grösste Hindernis ist, und das der nach Wahrheit strebende Mensch, weit davon, seinen Egoismus zu kräftigen vielmehr denselben überwinden muss, um das wahre Selbst, welches die Gottheit in allem ist, in sich selbst offenbar und zur lebendigen Kraft werden zu lassen.

Diese Erkenntnis der Einheit Gottes in allem, und nicht das blosse Fürwahrhalten von theosophischen Lehren, seinen sie nun von H.P. Blavatsky oder einem anderen Menschen verkündet, ist die einzige Grundlage, welche einer wirklichen theosophischen Vereinigung Sicherheit darbietet. Diese Grundlage sollte aber nicht bloss eine Theorie sein, sondern sie sollte befestigt werden durch die Tat, und diese Tat besteht darin, dass diejenigen, welche zur Erkenntnis des Lichtes, sei es auch nur ein schwaches Strahlen desselben, gelangt sind, sich zusammen vereinigen sollten , - nicht um Licht zu verbreiten, - sondern um die Hindernisse zu überwältigen, welche der Verbreitung des Lichtes hinderlich sind.

Werden die Irrtümer überwunden, so verbreitet sich das Licht der Erkenntnis von selbst.

Auf allen Gebieten, und deshalb auch auf dem Gebiete des Geistigen, kann durch ein einheitliches Zusammenwirken von weinigen viel mehr geleistet werden, als wenn viele ihre Kräfte zersplittern, indem die einzelnen nach verschiedenen Richtungen streben und sich dabei oft gegenseitig entgegen arbeiten.

Es ergeht daher an alle, denen es darum zu tun ist, nicht nur sich selbst, sondern die ganze Menschheit auf eine höhere Stufe der Erkenntnis zu bringen, und der Welt zu einer höheren und edleren Weltanschauung als der bisherigen zu verhelfen, der Aufruf, sich im Tempel des heiligen Geistes, d.h. in dem Geiste der Wahrheit zu versammeln und durch die gemeinsamte Tat diesem Geiste Ausdruck zu geben. Wo viele zum Tatsächlichen Handeln ernstlich entschlossen sind, da wird auch die äusserliche Form , in welcher dies geschehen kann, nicht lange verborgen bleiben, weil jede Kraft nach Offenbarung strebt, und sich am Ende selber die zu ihrer Offenbarung nötigen Formen verschafft. Wo aber nur die Form und nicht die Kraft vorhanden ist, da ist auch die Form nur ein leerer Schein, und fällt über kurz oder lang in sich selber zusammen, wie es die Erfahrung bewiesen hat.

Eine äusserliche Vereinigung von Menschen, welche das Edle und Gute erkennen, könnte ausserordentlich viel Edles und Gutes tun; eine Vereinigung von unwissenden Schwärmern, Fanatikern, Geisterklopfern, Spiritisten, befangenen philosophischen Spekulanten und blinden Nachbetern von Autoritäten kann nur Schaden bringen, wenn sich gleich solche Leute "Theosophen" nennen, oder sich einbilden, es zu sein, indem gerade sie es sind, welche der Neuling, welcher den richtigen Weg zur Freiheit betreten hat, irreleiten, oder ihn durch die vor ihm aufgehäuften Irrtümer veranlassen, denselben wieder zu verlassen und zu den "Fleischtöpfen Ägyptens" im Lande der Finsternis zurückzukehren.

Bisher ist noch jeder Versuch, in Deutschland eine "theosophische Gesellschaft" zu gründen oder zu erhalten, an der Unfähigkeit der Mitglieder derselben gescheitert. Trotzdem sind in Deutschland auch in dem verflossenen Jahre grosse "theosophische" Werke, d.h. Werke welche aus der Erkenntnis der Wahrheit hervorgingen, geschehen; - nicht durch theosophische Vereine oder durch Personen, welche sich einbildeten "Theosophen" zu sein, oder sich des Besitzes eines "theosophischen Diplomas" erfreuten, sondern durch solche, denen die Erkenntnis der Wahrheit ihr Siegel aufgedrückt hat. Dies sollte uns ein Fingerzeig sein, dass wir nicht auf die Bildung eines theosophischen Vereins zu warten brauchen, um Gutes zu tun, wenn auch ein solcher Verein, aus gutem Materiale zusammengesetzt, grosse Vorteile bieten würde, sondern dass jeder, der ein Theosoph werden will, auch ohne Hilfe von anderen Gutes tun kann und soll, indem er an die Veredelung der Weltanschauung arbeitet, und dieser Weg steht jedermann offen, durch die Unterstützung der Verbreitung gediegender theosophischer Literatur.    

      










  
Aufruf.
Franz Hartmann
Lotusblüten I. 1886