Seit undenklichen Zeiten hat das Problem der Unsterblichkeit die
Herzen bewegt und die Köpfe beunruhigt; zahllose Bücher wurden über
diesen Gegenstand geschrieben und es gibt schwerlich einen Menschen
auf Erden, der sich nicht die Frage gestellt hätte: " Was soll aus
mir werden, wenn mein Körper in Staub und Asche verfällt?"
Dennoch ist nichts leichter, wie die Beantwortung dieser Frage, wenn
wir nur der Stimme der Vernunft Gehör schenken. Dass unser
physischer Körper (Sthula Sharira) nicht unsterblich ist, wissen wir
ganz bestimmt, denn wir sehen täglich, dass unseres gleichen, Freund
und Verwandt, durch den Tod hinweggerafft werden. Dass unsere
intellektuellen Funktionen, Meinungen und Gedächtnissachen nicht
unsterblich sind, wissen wir auch, denn sie ändern sich häufig schon
während des Lebens auf Erden und mancher intellekte Riese ist schon
in seinem Greisenalter zum hilflosen Tölpel geworden. Daraus folgt
mit Bestimmtheit, dass nicht alles, was man gewöhnlich als zum
Menschen gehörig betrachtet, unsterblich ist, und die Frage
reduziert sich daher darauf, ob es im Menschen etwas unsterbliches
gibt, und was ist in diesem Falle das Wesen desselben.
Es versteht sich wohl von selbst, dass die Beantwortung dieser Frage
auf dem Wege objektiver Beobachtung allein nicht gelöst werden kann,
denn alles, was wir objektiv beobachten können, sind Erscheinungen
(Maya) sie gehören in das Gebiet der Täuschung, sind vorübergehend
und beweisen nichts weiter, als das Dasein von dem, was sie sind,
nämlich Erscheinungen und nichts mehr. Selbst wenn eine Million von
Erscheinungen aus der Geisterwelt zu uns kämen und behaupten würden,
die Geister verstorbener Menschen zu sein, dies könnte uns weiter
nichts beweisen, als dass dabei etwas im Spiele ist, das von
gewissen Menschen übrig geblieben ist, noch nicht ganz tot ist und
mit dem Erdenleben noch in Verbindung steht. Selbst wenn ein zu
einem Gotte gewordener Mensch vom Himmel
hernieder stiege und uns, wenn dies möglich wäre, den Beweis
seiner Unsterblichkeit brächte, so würde dies weiter nichts
beweisen, als dass dieser Mensch unsterblich geworden ist; es
wäre aber damit noch nicht gesagt, dass auch wir selber
unsterblich sind. Wer den Beweis der Unsterblichkeit finden
will, der muss in sich selbst das unsterbliche Wesen kennen
lernen; es gibt keinen anderen Weg. Derjenige, in welchem das
Bewusstsein seiner Unsterblichkeit erwacht ist, der sich seines
unsterblichen Wesens selbstbewusst ist, braucht keinen weiteren
Beweis dafür. Er ist unsterblich, weil
er sich dessen bewusst ist, und er ist es sich bewusst, weil er es
ist, Eine Unsterblichkeit, deren man sich nicht bewusst ist, wäre
eine " unbewusste Unsterblichkeit", ein Unding und könnte niemandem
nützen, denn unsterblich ist auch die unbewusste Materie, sie weiss
aber nichts davon.
Alle Theorien und die zu ihren Gunsten herbeigebrachten Theorien und
Experimente mit "Spiritismus", "Psychismus",
"Experimentalokkultismus", "Nekromantik", und wie der Firlefranz
aller heissen mag, haben gar keinen Wert, um den Menschen von der
Unsterblichkeit seiner selbst zu überzeugen; es gibt dazu nur einen
einzigen Weg, nämlich die Erlangung derjenigen Selbsterkenntnis,
welche den Menschen unsterblich macht. Alle solche sogenannten
"Beweise" können höchstens dazu dienen, den Menschen darauf
hinzuweisen, dass die Möglichkeit des Unsterblichkeitswerdens
vorhanden ist, damit er danach trachte sie zu erlangen. Der Glaube,
dass der Mensch unsterblich sei, er tue was er wolle, ist ebenso
demoralisierend als falsch; der Glaube, dass die Unsterblichkeit des
Menschen von der willkürlichen Gunst irgend eines dritten ausser ihm
abhänge, verdient keine Erwidrigung.
Die Weisen aller Völker und aller Zeiten haben gelehrt, dass es
etwas im Menschen gibt, welches unsterblich ist, und dass der
Mensch, welcher zur Erkenntnis dieser in ihm vorhandenen
unsterblichen Wesenheit gelangt, dadurch deren Unsterblichkeit
teilhaftig wird. Dieses unsterbliche Wesen wurde mit
verschiedenen Namen, als "Gott", "Brahma", "Chu" (ägyptisch), "Atma",
"Christos" usw. bezeichnet. meister Eckhart, Jakob Boehme usw.
nennen es den "göttlichen Funken" in der Seele des Menschen, andere
nennen es die "göttliche Liebe", andere die "göttliche
Selbsterkenntnis". Es ist das Selbstbewusstsein Gottes im Menschen,
das Licht, welches, wenn es die Seele erleuchtet, dieselbe
unsterblich macht, Es ist "der Vater", das heilige Feuer (Atma), zu
dem niemand (Manas) kommen kann, als durch die "Flamme" (Buddhi),
"den Sohn", und die Kraft, durch die dieses geschieht, ist das Licht
der göttlichen Selbsterkenntnis "der heilige Geist".
Nun gibt es Menschen verschiedener Art, nämlich:
1) Menschen welche keinen Funken dieser göttlichen Liebe in sich
haben. Diese sind nur menschen-
ähnliche Geschöpfe; ihrem Äusseren nach sehen sie aus wie Menschen,
sind vielleicht sogar gut dressiert und gelehrt, scharfsinnig,
schlau usw., haben aber keine Spur von Genie oder wahrem Geiste; sie
sind nur Menschentiere und nicht unsterblich.
2) Die übergrosse Mehrzahl der Menschen, welche von Geburt aus
diesen göttlichen Funken in sich haben, in denen derselbe aber
schlummert und früher oder später, wenn auch nicht während ihres
jetzigen Daseins auf Erden, zum Erwachen kommt. Der grad, in welchem
sie das Bewusstsein ihrer Unsterblichkeit geniessen können, hängt ab
von dem Grade, in welchem sie dieses Dasein (die Gegenwart Gottes in
sich ) empfinden.
3) Menschen, in denen infolge ihrer Laster oder verkehrten Begierden
das Gefühl und Bewusstsein dieses göttlichen Funkens völlig verloren
gegangen ist,"Gottlose", d.h. solche, in denen sich dieses Göttliche
(Atma Buddhi) auf Nimmerwiederkehr vom irdischen Wesen (Manas-Kama)
getrennt hat. Dieses sind die geistig Toten, für welche es kein
Erwachen gibt, weil in ihnen die Fähigkeit zum geistigen Erkennen
verloren gegangen ist. Sie sind trotz ihres Scharsinns und
allenfallsigen Frömmelei unrettbar verloren, wenn nicht durch eine
gänzliche Umkehr, die nur dann möglich ist, , so lange sie selbst
noch eine Spur des Göttlichen in sich haben, dieser göttliche Funke
wieder in ihr Herz zurückkehrt.
In Bezug auf die geistig Gestorbenen sagt Chauncey Giles:
" Der physische Tod, d.h. der Tod des menschlichen Körpers, ist
eine wohltätige Einrichtung in der Natur, ein Mittel, wodurch
der Mensch seiner höheren Bestimmung (auf dem Weg der Evolution)
gelangen kann. Aber es gibt einen anderen Tod, welcher nicht in
der Bestimmung der göttlichen Ordnung sondern derselben
entgegengesetzt ist, und durch welchen die Zerstörung der
Menschlichkeit in der Menschennatur
und die Unmöglichkeit seiner Seligkeit herbeigeführt wird. Dies ist
der geistige Tod, welcher stattfinden kann ehe der Körper stirbt.
Eine grosse "geistige" (intellektuelle) Entfaltung des natürlichen
Gemütes (Manas-Kama) kann vor sich gehen, ohne dass eine Spur von
göttlicher Liebe (Selbsterkenntnis) damit verbunden ist. Wer in die
Selbstsucht und die Liebe zur Welt und deren Genüsse vesinkt,
der verliert die Liebe zu Gott (zu seinem göttlichen Selbst,d.h. zur
Wahrheit) und zu seinen Nebenmenschen; er versinkt vom Leben (dem
höheren Bewusstsein) in den Tod (das tierische Scheinbewusstsein).
Die höheren Prinzipien, welche die wesentlichen Elemente seines
Menschentums ausmanchen, verlassen ihn, und er lebt nur mehr auf der
Ebene seiner menschlich irdischen Tätigkeit. Physisch (und
intellektuell) ist er da, geistig ist er tot. Für alles, was dem
höheren und allein unvergänglichen Dasein angehört, ist er ebenso
tot, als sein Körper in Bezug auf alle sinnlichen und weltlichen
Genüsse und Vergnügungen tot sein wird, wenn der Geist (Prana) ihn
verlassen haben wird. Dieser geistige Tod ist das Resultat eines dem
Gesetze des (göttlichen) Geistes in der Natur entgegengesetzten
Lebenswandels, welcher dieselben Folgen auf geistigem Gebiete hat,
als auf der physischen Ebene der Ungehorsam gegen die Gesetzte der
physischen Natur.
Die geistig Gestorbenen haben immerhin ihre Vergnügungen. Sie haben
ihre intellektuellen Fähigkeiten und Kräfte und mögen intensiv
intellektuell tätig sein. Alle tierischen Fähigkeiten sind in ihrem
Besitze, und für die Mehrzahl der Menschen sind gerade diese das
höchste Ideal ihrer Glückseligkeit. Diese Lebendig-Toten werden von
der unermüdlichen Sucht nach Reichtum, von den Vergnügungen und
Unterhaltungen des gesellschaftlichen Lebens berauscht, sie
kultivieren vielleicht Eleganz der Erscheinung und des Auftretens,
suchen nach gesellschaftlicher Bevorzugung und wissenschaftlicher
Auszeichnung; aber mit allen ihren Liebenswürdigkeiten, stolzen
Gewändern und glänzenden Eigenschaften sind diese hohlen Geschöpfe
tot in den Augen des "Herrn" (Iswara), und wenn man sie mit dem
einzig richtigen und unveränderlichen Massstabe (der Wahrheit)
misst, so haben solche Geschöpfe in Wirklichkeit nicht mehr Leben,
als ein Gerippe, dessen Fleisch zu Staub und Erde geworden ist."
Alle dergleichen Ansichten haben wir schon in unserer Jugend von der
Kanzel gehört, aber es ist ein Ding, dergleichen Aussprüche in
dogmatischer Weise zu machen und zu verlangen, dass die Zuhörer
denselben blinden Glauben schenken, und es ist ein anderes,
dergleichen Lehren wissenschaftlich zu erklären und fassbar zu
machen. Wer gewohnt ist, blind zu glauben und den Herrn Pfarrer für
sich denken zu lassen, der tut sich leicht, er hat keinen Zweifel
und schliesslich auch keine Erkenntnis. Der selbstdenkende Mensch
aber stösst überall auf die Einwürfe seiner Vernunft, er möchte
immer gerne das "wie" und "warum" wissen, ehe er sich entschliesst
zu glauben. Er will eine Sache theoretisch begreifen, ehe er sie
praktisch befolgt.
Diesen Zweck erfüllt die theosophische Lehre, wie wir sie in den
alten Schriften der Inder finden. Wo uns die Bibel bloss sagt:"dies
und das müsst ihre tun", da geben die Vedas den Grund dazu an. Nach
diesen ist die Trennung des Kama-Manas von Atma-Buddhi-Manas eine
während des Lebens möglicherweise eintretendes Ereignis, und das
Studium der "sieben Prinzipien" in der Konstitution des Menschen
gibt den Schlüssel zu dessen Erklärung. Am Ende ist mancher unserer
heute als gross angestaunten Berühmtheiten nichts als ein Elemental -
ein "Erdgeist"!
Auszug aus den Lotusblüten 1894 1. Semester von Franz Hartmann