Selbsterkenntnis
AUSZUG
aus dem
Maha Nirwana Tantra*
Übersetzt
(*Die Tantras sind philosophische Abhandlungen, enthaltend den Unterricht in wissenschaftlicher Religion
und Magie. Viele derselben enthalten eine erhabene Weltanschauung; andere dagegen (die niedrigen Tantrikas) beziehen sich auf
gewisse Ceremonien „Beschwörungen“ von Elemtarwesen u.dergl. und dienen selbstsüchtigen Zwecken. Letztere existieren meistens nur in
Handschriften und werden als verbotene Bücher Brahminen gesucht und verbrannt.
Nicht der persönliche Mensch, sondern dasjenige, was seine geistige Individualität konstruiert, nämlich Manas (Mens), der
„Gedankenkörper“ reinkariert sich wiederholt in menschlichen Formen, oder mit anderen Worten, er nimmt bei jedem solchen Auftreten
eine neue Maske (Persona) an. In diesem seinen sich reinkarnierenden Prinzip ist die
Täuschung des „Selbsts“ oder Sonderseins mit dem daraus entspringenden Wünschen, Neigungen, selbstsüchtigen Instinkten u.s.w.
enthalten, und solange der Mensch etwas wünscht, solange wird er von dem Gegenstande seiner Wünsche angezogen. Wenn daher in diesem
Prinzip, wenn auch „unbewusst“ und instinktiv die Begierde zum Leben (d.h. zum persönlichen Dasein) vorhanden ist, so wirkt diese
Sehnsucht als eine Kraft, die ihn immer wieder zum irdischen Dasein führt.)
2) Wie eine Kette den Menschen bindet, gleichviel ob sie aus Eisen oder Gold gemacht ist, so wird der Mensch sowohl von seinem guten
als seinem bösen Karma gefesselt.
Die guten Taten, welche der Mensch in seiner Selbstheit verrichtet, binden ihn ebenso sehr wie die schlechten an seine persönliche
Existenz; denn in beiden Fällen entspringt Sie seinem Eigenwillen, der eine Eigenschaft der Persönlichkeit ist. Diese Persönlichkeit
ist aber für sich selbst (als etwas von Gott Appartes) betrachtet ein Nichts und ebenso wertlos wie eine Null ohne die davor-
gesetzte Zahl, und da der Mensch in dieser Beziehung ein Nichts und seine Selbstheit ein Wahngebilde ist, so kann er als solcher aus
nichts wirklich gutes vollbringen; es sei denn, er handle ganz selbstlos, als ein Werkzeug der in ihm und durch ihn wirkenden Gnade
(des Lichtes der göttlichen Weisheit) die ihn erleuchten muss eh er in ihr
selbstbewusst wirken kann. Was aber der Mensch in seinem Eigenwillen tut, sei es gut oder böse, verursacht gewisse Ursachen, deren
Folgen wieder auf ihn selbst zurückfallen, und dies ist das Gesetz des Karma, welches ihn an die Erde bindet, solange bis er das,
was er selber geschaffen hat, wieder verzehrt (genossen oder gelitten) hat. Dieses Karma kann nur dadurch vernichtet werden, dass
der eigene Wille völlig im göttlichen Willen geopfert, die Selbstheit des Menschen im göttlichen All selbst aufgeht, und dadurch der
Mensch statt dem Gesetze unterworfen zu sein, selbst zum Gesetz wird.
3) Ein Mensch mag noch so viel Gutes tun und sich noch so viele Entbehrungen auferlegen, er wird dennoch nicht Moksha erreichen,
solange er sich nicht (in Wahrheit) selber erkennt.
Wer das Gute bloß objektiv betrachtet, ohne es auszuüben oder in sich aufzunehmen und zu verwirklichen, der ist ein Träumer und
Schwärmer und gleicht einem Hungrigen, der bei gedeckter Tafel sitzt, sich aber mit dem bloßen anschauen begnügt. Das Ideale kann
nur durch die Tat verwirklicht werden, und es verwirklicht sich im Menschen von selbst, wenn er seiner besten Überzeugung gemäss und
ohne eigennützige Absicht handelt. Um aber die Moral dieser Lehre zu begreifen und auf intelligente Art ausüben zu können, dazu
sollte der Mensch die Naturgesetze und vor allem seine eigene Konstitution kennen lernen, was durch Beobachtung, Erfahrungen und
Anleitung geschieht.
Die Welt ist insofern eine Täuschung, als man die Formen für das Wesen hält und das wahre sein nicht erkennt. Meister Eckhart sagt:“
Alle Kreaturen an sich sind gleich nichts; nur überstrahlt von dem Lichte, auf dem sie ihr Wesen schöpfen, sind sie etwas. Ihr Wesen
hängt ab von der Gegenwart Gottes in ihnen. Wenn man eine Kreatur gegen die andere
hält, so scheint sie schön und ist etwas, hält man sie aber gegen Gott, so ist sie nichts.
Im Universum ist zweierlei zu unterscheiden: I. Satchinanda, das Ewige und II. Maya, das Wechselbare. Das erste ist: a. Sat
- das Sein b. Chit – Intelligenz; 3. Ananda – Freude. Das andere ist die Erscheinung, Maya, welches zwei Eigenschaften hat,
nämlich Nama – Namen, und Rupa – Form. Das unveränderliche ist Brahma (das ewige Sein); wer dieses in allem erkennt, kann nicht von
der Erscheinung getäuscht und verlockt werden.
Damit ist nicht gemeint, dass sich der persönliche Mensch einbilden solle er sei Brahma oder Christus; es ist vielmehr der
Gottmensch selbst, der sich im Vernumftmenschen selber erkennt, wenn der Mensch sich Gott geopfert hat und sein Bewusstsein in
Brahma aufgegangen ist.
Atman, der göttlliche Geist, das Licht, ist der Zeuge von allem; allgegenwärtig und in jedem Atom enthalten, entgeht ihm nichts; Er
nimmt aber nicht teil an dem, was in dem Schattenspiele der Welt geschieht, sondern verhält sich wie ein unbeteiligter Zuschauer,
den die Komödie nicht weiter berührt (Siehe Bhagavad Gita V.)
Der Mensch wird von dem, was er liebt, angezogen und dadurch schliesslich mit dessen Natur identifiziert. Man liebt niedere und
vergängliche Ideale, weil man die höchsten, unsterblichen Ideale nicht kennt. Jeder liebt das, was ihm selbst am nächsten liegt, und
kann nur nach dem Grad des seiner Erkenntnis handeln. Johann Scheffler drückt dies drastisch aber wahr in folgendemVerse aus:
„Ein Mensch, der sieht nur Gott, ein Tier den Erdenkloss an, aus diesem was er ist, ein jeder sehen kann.“ (Der Cherubinische
Wandersmann)
Das, was nicht wahr ist, kann nie zur Wirklichkeit gemacht werden. Man mag eine Lüge bearbeiten soviel man will, es wird keine
Wahrheit daraus. Die Wahrheit ist kein Erzeugnis; sie ist ewig und selbstexistierend; sie wird dadurch offenbar, dass die Lüge,
welche sie verdunkelt, entfernt wird. Aus diesem Grunde kann auch kein Mensch einem anderen göttliche Weisheit lehren; er kann Ihn
nur vom Irrtume des falschenWissens überzeugen. Ist der Irrtum verschwunden, so offenbart sich die Wahrheit von selbst. Die wahre
Theosophie wird deshalb von niemandem gelehrt, als von ihr selbst.
Dazu könnte man auch noch den Götzendienst, der mit lebenden oder historischen Persönlichkeiten getrieben wird, rechnen. Wie groß
und tugendhaft auch ein Mensch, der in früheren Zeiten gelebt hat, gewesen sein mag, so kann uns sein Leben doch nur als Vorbild zur
Nachahmung dienen; denn die Erkenntnis, welche ein anderer besitzt, ist nicht unsere eigene.
Die vierfache Nahrung sind (trotz aller verkehrten Auslegungen, die über diesen Gegenstand von“ Orientalisten“ geschrieben worden
sind) die Nahrungen, welche dem Menschen auf den vier Stufen seines Daseins zuteil werden; nämlich die Nahrungen des physischen, des
seelischen, des geistigen und des göttlichen Wesens im Menschen.
Alle Anstrengungen, die Täuschung der Selbstheit in das Reich der Wahrheit ein- zuschmuggeln, wo keine Täuschung existieren kann,
sind närrisch. Es gibt keine Auferstehung im Geistigen, als durch den vorher gegangenen mystischen Tod, d.h. durch die Aufopferung –
nicht eines Teils des Besitztums – sondern durch das völlige Aufgeben der Illusion des eigenen „Ichs“.
Diese Andachtsübung ist die wahre geistige Kommunion, d.h. Die Vereinigung mit Gott, oder vielmehr die Erlangung der Erkenntnis,
dass diese Einheit des Menschen mit Gott besteht, denn sie hat in Wirklichkeit nie aufgehört zu sein; die Illusion der Zweiheit ist
nur eine Täuschung, hervorgerufen durch die Verblendung der Sinne, durch die Sondereinheit der Erscheinung. Auch braucht kaum
erwähnt zu werden, dass unter der Betrachtung Brahmas eine innerliche Selbstbetrachtung zu verstehen ist. Desgleichen sind
Lobgesänge nur nützlich, wenn Sie ein äußerlicher Ausdruck der im Inneren waltenden Gefühle sind, und sie nützen nicht dadurch, dass
vielleicht Gott sich durch dieselben geschmeichelt fühlen würde, sondern dadurch, dass Sie die Seele erheben. Das Nutzloseste ist
das, was sich bloß als Komödie abspielt, sei es innerhalb oder außerhalb einer Kirche.
Siva und Kesava sind Bezeichnungen des Logos, korrespondierend im Deutschen mit Christus und dem Heiligen Geiste. Wer Gott in sich
selber erkennt, der braucht keine Übung, um sich mit ihm zu vereinigen, da er ja dieser Vereinigungen sich schon bewusst ist. Wenn
es in Europa heutzutage einen solchen Menschen gäbe, so könnte er mit dem Apostel sagen:“ Ich lebe; doch nicht ich lebe, sondern
Gott lebt in mir.“ Dies ist auch das Endziel des Christentums und wird auch angedeutet mit den Buchstaben J.N.R.J., Welche über dem
Kreuze angebracht sind und im exoterischen Sinne als Jesus Nazarenus Rex Judeorum, im esoterischen Sinne aber als In Nobis Regnat
Jesus (in uns wohnt der Erlöser) bedeuten. Wer den in ihm wohnenden Erlöser ableugnet, der segelt unter falscher Flagge, wenn er
sich einen „Christen“ nennt.
Das Licht der Erkenntnis, dass in ihm wohnt, ist das Licht, die Substanz und Wesenheit des heiligen Geistes, die Offenbarung der
Wahrheit selbst, die Erleuchtung der Seele, welche ganz und gar nichts gemein hat mit dem geistlosen Wissen der intellektuellen
Spekulation.
Nur wer aufgehört hat, ein „Mensch“ zu sein und zum Gottmenschen geworden ist, tritt in diese Erkenntnis ein. Gott ist keine
Kreatur, und die Kreatur kann sich nicht als das alleinige Sein erkennen; wohl aber erkennt sich Gott in seiner Kreatur, und die
Kreatur nimmt dadurch an dieser Erkenntnis teil. Diese Vereinigung wird „Yoga“ (von yog – verbinden) genannt. Dass unter „Gott“ aber
das unendliche Sein verstanden wird, darin stimmen aber auch alle christlichen Mystiker überein. Nur der moderne Aberglaube hat aus
ihm etwas beschränktes gemacht.
Wer über alles persönliche Gefühl hinausgewachsen ist, für den gibt es kein persönliches Tun, keine persönlichen Leiden und Freuden,
keine „Bestrafung oder Belohnung“, keine „Belustigung“ weder im Himmel noch auf Erden. Was mit seiner Persönlichkeit, in der er auf
Erden wandelt, geschieht, geht nicht ihn, sondern seine irdische Natur an, über die er erhaben ist, und von der er sich trennen
kann, wenn er will. Beispiele solcher Menschen findet sich nicht nur unter den indischen Yogis, sondern auch unter den christlichen
Heiligen und Märtyrern, aber schwerlich unter den Menschen der modernen Civilisation.
Wer sich nach Mukti sehnt, ist ein Thor, weil sein „Ich“ nicht in Mukti eingehen kann. Die Täuschung des „Ichseins“ muss aus der
Menschennatur verschwinden, ehe das Gottesewusstsein in ihr offenbar werden kann. „Mukti“ heißt Freiheit. Der Geist, welcher in
Mukti eintritt, braucht nicht erst frei zu werden; er steht ewig in der Freiheit und ist an nichts gebunden. Sobald der Mensch im
Geiste erkennt, dass er in Freiheit ist, so ist er auch schon darin.
Wenn Gott alles ist, so ist alles, das außer ihm da zu sein scheint, nichts als ein bloßer Schein, Maya oder Illusion. Meister
Eckhart sagt:“ Gott hat alle Dinge verborgen in sich; nicht als Kreaturen, sondern als Typen dessen, was werden soll, sind Sie in
seiner göttlichen Natur enthalten, wie Bilder in einem Spiegel; die Bilder selbst sind wesenlos; der Spiegel selbst ist deren
Substanz. Obgleich die Kreaturen jetzt mannigfaltig sind, so sind sie doch nur ein einziges Bild in Gott.“ Ferner:“ Gott ist nicht
denkbar ohne eine Welt. Die Schöpfung ist ein immerwährender Prozesse in Gott. Gott ist deshalb überall; er ist das Zentrum in jedem
Dinge, sei es auch das kleinste Atom.“
Akása ist nicht der kosmische Äther der Astronomen, sondern eine qualitativ viel höher stehende geistige Substanz, für die es in
Deutschen keinen Namen gibt, als vielleicht das nichtssagende und irreführende Wort „Urmaterie“. Es ist im Vergleich zum kosmischen
Äther, was Geist im Vergleich zu Materie ist. Vielleicht ließe es sich als die „Substanz der Weltseele“ bezeichnen; am passsendsten
ist wohl das Wort „Raum“, da dies ebenso nichtssagend ist. Raum ist undenkbar ohne Substanz; er wird erst dann vorstellbar, wenn er
sich als Form objektiv offenbart.
Atma, der Geist, ist ewig. Er hat keine „Evolution“ nötig; die Evolution ist nur für die Formen, in denen der Geist offenbar wird.
Wir tun Gott keinen Gefallen mit unserem „Gottesdienst“, sondern indem wir unserem Götzendienst entsagen, dienen wir uns selbst, da
wir hierdurch die Bedingungen wieder herstellen, unter denen sich der Geist Gottes in uns offenbaren kann. Auch kann der Mensch den
göttlichen Geist nicht bewegen, sondern, es ist vielmehr in seinem Interesse, durch den Gehorsam gegen das Gesetz sich in die Lage
zu versetzen, vom Geist Gottes bewegt zu werden.
„Wisse, dass Er, der das All ausgebreitet hat, nie untergehen kann. Das ewige wird nie geboren und stirbt nie. Es entsteht nicht und
wird niemals entstehen. Ungeboren, unvergänglich, unendlich, stirbt es nicht, wenn der Körper getötet wird.“ (Bhagavad Gita II, 17.)
„Das ganze Weltall ist durch mich entfaltet worden vermittelst meiner geheimnißvollen materiellen Natur (Mulaprakriti). Alle Dinge
wohnen in mir, aber nicht ich (in meiner Gottheit) in ihnen. (Bhagavad Gita IX, 4, Braunschweig 1892.)
Der Körper, von dem hier die Rede ist, ist nicht der physisch sichtbare Körper, sondern das Sukshma Saria, der Gedankenleib
der“geistigen“ Individualität, der Sitz der Täuschung des „Selbsts“, welcher immer wieder in neuen Inkarnationen auf der Erde
erscheint, bis endlich das Erwachen der göttlichen Selbsterkenntnis
die Kraft zerstört, welche ihn zusammenhält. Dann tritt der Geist ins Allbewusstsein (Nirwana) ein, indem er frei von der Täuschung
der Beschränktheit, sich eins mit Brahm als das wahre Sein im Universum erkennt.
Dieses geistige Erwachen ist von Edwin Arnold in der „Leuchte Asiens“ in folgenden
Worten beschrieben:
„Doch jetzt,
Erbauer dieses Tabernakels, - du!
Ich kenne dich, nie sollst du wieder bauen
Der Schmerzen Mauern,
Noch des Betruges Sparrenwerk aufs neu´
Mit frischen Balken zimmern.
Zerbrochen ist dein Haus, der First zersprang,
Die Täuschung baute es.
Gerettet zieh ich in die Freiheit ein.“
Und Goethe sprach denselben Gedanken aus, indem er sagt:
„von Gewalt, die alle Welten bindet,
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“
von Panchanan Ghosh.
(Rajmahal, Bengalen)