Noch heute ist sich die Gelehrtenwelt einig:“ Es gibt kein Mysterium auf
dieser Welt, welches grösser wäre als das österliche Geheimnis.“ Die
Kreuzigung und Auferstehung Christi und seiner Himmelfahrt zeigen uns nicht
nur seine absolute Gewalt über die Gesetze des Kosmos und der Erde. Sie
waren nicht nur das Erlösungswerk für die Menschheit, nein, der Tod Jesu
Christi hat auch dem geistig aufwärtsstrebenden Menschen seinen genauen Weg
gewiesen. Ein altes Sprichwort heisst:“ Wer nicht stirbt, bevor er stirbt,
der verdirbt, wenn er stirbt.“ Durch diese Weisen Sätze werden wir auf den
mystischen Tod verwiesen.
In der vorchristlichen Zeit wurde im alten Ägypten der
Neophyt vom Hohepriester in die Mysterien eigeweiht. Diese Einweihung war
immer mit einem todesähnlichen Zustand des Menschen verbunden, welcher meist
drei bis vier Tage dauerte. Immer war vorher jahrelang die grosse Katharsis
oder Läuterung des niederen Seelenteils vorangegangen. Der Unterschied
zwischen dem normalen irdischen Tod und dem mystischen Tod ist folgender:
Der normale irdische Tod ist eine Zwangseinweihung
eines
jeden Menschen. Wenn die körperliche Hülle abgelegt wird und das höhere
Bewusstsein des Menschen in die geistige Welt eingeht und vorher keine
Läuterung im Fleische stattgefunden hat, so muss die Seele diese Läuterung
in der Astralwelt durchlaufen.
Die Kirche spricht dann vom Läuterungsprozess oder Fegefeuer. Beim
mystischen Tod ist der Vorgang genau umgekehrt zu sehen, hier erfolgt die
Läuterung schon im Fleisch, und dadurch tritt der mystische Tod ein, d.h.,
hierbei verliert der Neophyt nicht die körperliche Hülle, sondern kehrt,
nachdem das menschliche Bewusstsein mit der himmlischen Seelenkraft erfüllt
wurde, in dieselbe zurück. Doch jetzt kommt der furchtbare Unterschied
zwischen einer Einweihung im alten Ägypten, also der vorchristlichen Zeit,
und der Einweihung nach dem Kreuzestod unseres Erlösers, also in der
christlichen Zeit. Kehrte eine Seele in der vorchristlichen Zeit nach
erfolgtem mystischen Tod in den Körper zurück und traf da noch niedere
Seelenkräfte an, welche bei der grossen Katharsis nicht völlig abgestorben
waren, so konnte entweder jetzt der tatsächliche irdische Tod eintreten,
oder der Mensch, welcher durch sein inneres Bewusstsein die Einweihung
suchte, vereinigte sich dann doch mit der höheren Seelenkraft und riss sich
mit Gewalt von jenen niederen Kräften los.
Dadurch entstand eine Spaltung, wobei das menschliche
Bewusstsein der höheren Seelenkraft zugewandt blieb, indes die niedere
Seelenkraft, die nicht abgestorben, nicht geläutert war, den Menschen daran
hinderte, als seelisch Wiedergeborener auf
Erden weiterzuleben.
Dann trat, wie schon gesagt, entweder der
wirkliche Tod ein, oder, wenn die Natur noch stark genug war, belebte diese
ungereinigte, niedere Seelenkraft wiederum die körperliche Hülle des
betreffenden Menschen, und es blieb nach dem Aufleben aus dem mystischen Tod
eine menschliche Hülle ohne Bewusstseinszentum, ohne höhere Seelenkraft, nur
erfüllt von niederen Seelenkräften.
Solche Wesen waren dann zum Tier degeneriert oder halb wahnsinnig, meist
geistesgestört. Sie blieben als Sklaven in den Gärten der
Einweihungsstätten. Woldemar von Uxkull hat das in seinem interessanten Buch
„ Die Einweihung im alten Ägypten“ genau beschrieben. Doch nun kommt das
Hauptverdienst unseres Herrn Jesus Christus: Durch sein Erscheinen auf
dieser Erde und seinem Opfertod hat er mit seinem göttlichen Strahl auch die
niedere oder tierische Natur des Menschen so durchdrungen, dass ein heutiger
Eingeweihter, an welchem sich der mystische Tod vollzieht, ein solches
grausames Schicksal, wie das seines Vorgängers aus vorchristlicher Zeit,
nicht mehr zu erleiden braucht. Der Mensch, der heute wahrhaft wiedergeboren
wurde, hat sich dadurch zur Peripherie des geistigen Zentrums Christi
gemacht, der aus dem Reiche des Himmels in der Region des Kosmos herabstieg,
um dort die Erlösung zu bringen.
Nur durch die Kraft Jesu Christi war die furchtbare
Möglichkeit verschwunden, dass jene kosmisch-irdische Hüllennatur an sich
fortbestehe, abgerissen vom Bewusstseinszentrum als ein blosses Tier in
menschlicher Gestalt. Deshalb hat alles, was nicht vom Geiste Christi
durchdrungen ist, für die Menschheit in Wahrheit keine Bedeutung, keinen
Wert und keinen höheren Sinn. War in der vorchristlichen Zeit diese
Einweihung immer nur einzelnen vorbehalten, so wurde durch das Erscheinen
des Erlösers dieser Weg für alle gangbar.
Nicht
für sich allein, sondern in Gemeinschaft mit den anderen wurde das Erleben
der All-Einheit erreichbar.
Natürlich ist der Mensch, der sich diesem Geiste
hingibt und sich ihm nähert, immer mit ihm allein. Er soll aus der
Gemeinschaft, aus der All-Einheit selber hervortreten, um als einzelner, dem
Geiste nach, der zentralen Ur-Einheit entgegenzutreten. Allein betete
Christus auf Gethsemane, allein erlitt er den Kreuzestod, allein war er im
Grabe, allein auch zu der Zeit seiner Auferstehung.
So ist auch der Jünger des Geistes allein auf seinem
Weg der Einweihung.
Immer befindet er sich jedoch im Geiste in der
Gemeinschaft derer, welche in Christus wiedergeboren wurden. Kein ehrlicher
Sucher wird auf seinem schweren Weg im Stich gelassen. Nur da, wo die
Bedeutung der übernatürlichen All-Einheit der höheren Seelenkraft falsch
aufgefasst und ihr peripheres Verhältnis zum Geisteszentrum Christi
missachtet wird, da entstehen Spaltungen, Abtrennungen und
Missverständnisse. Deshalb ist auch die Bruderschaft die wichtigste
Leitlinie eines aufrichtigen Suchers nach dem heiligen Gral.
Die Bruderschaft jenes Grals der das Blut
Christi enthält und deshalb als Symbol des Herzens Christi dasteht, hat
Beziehung zu den Worten Christi am Kreuz:“Es ist vollbracht, das grosse
Zeichen stand am Himmel.“ Den Weg, der durch den Tod des natürlichen
Menschen zur Wiedergeburt im Geiste führt, kann nicht ein jeder Mensch
betreten, und das Erlebnis des grossen Zeichens würden nicht alle ertragen
können.
Trotzdem ist es das alleinige Verdienst unseres Erlösers Jesu Christi und
damit das grosse Ostergeheimnis des Menschen, den Weg gewiesen zu haben, wie
der verlorene Sohn in das Vaterhaus zurückkehren kann. Nicht erst nach dem
Tod, sondern
schon heut, hier und jetzt.
Frater Gragorianus