Die Übung Toleranz und Duldsamkeit ist eine Vorschule zur okkulten
Entwicklung und eine Vorstufe des okkulten Pfades. Bis hierher war die
Toleranz eine Eigenschaft. Jetzt soll sie zu einer Kraft werden, und
zwar zu einer magischen.
Das Prinzip der Toleranz, das die theosophischen Lehren zum Grundsatz
haben, hat somit nicht nur einen sozialen äusseren Wert in Bezug auf
Fortschritt und die Geistesfreiheit des Menschen, sondern bringt auch
einen enormen inneren Fortschritt hervor bei jedem einzelnen, der dieses
Prinzip der Duldsamkeit richtig in sich hineinarbeitet und aus sich
herausstrahlt. Wahre Toleranz führt zur Entwicklung seiner okkulten
Macht, sie führt auf den Weg der weissen Magie.
Sich magisch entwickeln hängt mit Dulden zusammen, denn es bedeutet
soviel als eine höhere Macht in sich wirken lassen, sie in sich dulden.
Diese Duldung muss aber dann zu einer positiven Duldung geworden sein,
nicht nur eine Art Lässigkeit, denn dies führt zur Mediumschaft, sondern
zu einer Art Hingebung an diese höhere Macht, eine Erhebung zu derselben
unter Verlassen und Vergessen des eigenen beschränkten Selbstes.
Wir müssen bedenken: Die höheren Willenskräfte im Weltall sind überall.
Sie sind schon fertig da, sie brauchen nur ein Organ, durch welches sie
sich äusseren können. Der Mensch soll sich also nicht einbilden, dass er
je die höheren magischen Kräfte verfertigen oder auf irgendeine Weise
produzieren könne. Nein, er
kann sich nur zu einem Organ der göttlichen Kräfte machen, oder
vielmehr, er kann nur einwilligen, dass die Allkraft im Raume sich aus
ihm ein Organ zu ihrer Offenbarung bereitet und entwickelt. Wir haben
also hier wieder das Resultat: Es bedarf der Einwilligung des Menschen,
der Duldung, aber allerdings der positiven Duldung, die die Hinneigung
ist. Es ist dies eine ganz besondere Geistesverfassung, die hier gemeint
ist und die hier nötig ist. Sie ist schwer zu verstehen.
In den Mysterien der Alten und auch in allen möglichen religiösen Mythen
finden wir dieses Verhalten der Seele, dem Verständnis des Schülers
näher gebracht durch ein Gleichnis, das sicher als das treffenste zu
nennen ist.
Die Seelenverfassung ist nämlich verglichen mit dem Verhalten des
Weiblichen in der Natur zu dem anregenden Männlichen. Es ist nicht nur
passiv, sondern positive passiv. Erwartung ist das richtige Wort
zur Bezeichnung dieses Verhaltens. In der christlichen Mystik ist es
Maria, die das Gemüt des Menschen darstellt – Manas. Es erwartet den
Strahl, den Christos. Der Ausdruck Braut Christi, den wir bei
verschiedenen Mystikern des Mittelalters finden für Seelen, die sich dem
höheren Leben geweiht haben, hatte dieselbe Bedeutung.
Manas ist im Vergleich zu Atma-Buddhi immer weiblich zu nehmen.
Wohl nicht so misszuverstehen, als ob Manas differenziert wäre, denn auf
diesen Ebenen gibt es keine Geschlechtsunterschiede.
Übrigens der wirkliche Unterschied von weiblich und männlich ist zu
sehen in der Polarisation und dieses ist überall, sogar auf der
göttlichen Ebene. Geschlechtsunterschiede sind nur der Ausdruck des
Gesetzes der Polarisation. In der Mystik wurde verständnishalber das
Passive, das Erwartende, Gestaltungsfähige, Erleuchtungsfähige usw.
immer das Weibliche genannt.
Nun wieder zurück zu unserem Thema: Positive Toleranz ist es, was der
okkulte Schüler üben muss, und dies ist mit andere Worten: Liebe, das
ewig Weibliche in Goethes Faust: Das ewig Weibliche in uns zieht uns
hinan. Der Schüler muss in Liebe sich ergeben in das göttliche
Wollen seiner höheren Natur, dann wir auch die Kraft derselben in ihm
Raum gewinnen. Diese Kraft wird in ihm wachsen, und er wird auch durch
sie zum Beherrscher der ganzen Welt.
Er wird aber nicht herrschen durch seine Eigenwillen, sondern eben durch
Liebe! Er wird nicht siegen durch Unduldsamkeit, sondern durch Toleranz.
Wer dieses Gesetz kennt und versteht, der schreitet rasch weiter, bewegt
sich gefahrlos durch alle astralen Einflüsse hindurch und löst sich auf
eine staunenerregende Weise aus den unlösbar scheinenden Schlingen
seines Karma los.Wohl
dem, der das Prinzip der Toleranz achtet bei seinem okkulten
Fortschritt. Die bösen astralen Mächte, die Elementals, von denen sich
manche verfolgt glauben, werden nicht durch Hass, sondern durch Liebe
überwunden. Hass verstärkt nur den Gegensatz, denn wo der Hass ist, ist
auch Furcht und Furcht schwächt.
Liebe dagegen hebt den Gegensatz auf, Liebe oder Duldsamkeit wandelt um.
Es gibt nämlich auch einen Sieg
durch Nachgeben. Wenn Liebe und Duldsamkeit gross genug sind, so
überwältigt dies jeden Feind. Ja, die richtige Anwendung der Toleranz
gibt Macht über die ganze Astralwelt, welche Macht sogar auf die
physische Welt, die ganze Natur ausgedehnt werden kann.
Die Lösung des Rätsels aller Überwindung liegt darin, dass man
vermittelst der Alliebe lernt, das Feindliche als einen Teil von sich
selbst zu fühlen. Dadurch verliert dieses seinen schädlichen Charakter,
löst sich entweder auf, schwingt aus oder wandelt sich um.
Dies tut es deshalb, weil es, wie alles in der Welt, dem grossen Gesetz:
Gleiches zieht Gleiches an folgen muss. Das Böse wird vom Bösen
verfolgt, das Gute vom Guten. Aber das Produkt der beiden Gleichnamigen
gleicht immer ihrer eigenen Natur. Hass zieht den Hass an, das Produkt
ist Zerstörung. Wer aber
nur Liebe und Duldsamkeit ausstrahlt, der wird erhalten bleiben, der
wird leben, der wird siegen. Das Böse, das auf ihn eindringt, wird sich
entweder selbst in Gut umwandeln müssen, indem es als das, was es ist,
freiwillig stirbt oder es wird abfallen, es wird fliehen, weil es keine
Wahlverwandtschaft findet.
Wer hasst, der zerstört und wird selbst zerstört. Wer liebt, der erhält,
er wandelt um und wird selbst umgewandelt. Bei einem Kampf, der etwa
zwischen einem schwarzen und weissen Magier stattfinden würde, wird der
weisse Magier dann siegen, wenn seine Liebe und Verzeihung gross genug
ist.
Jeder Makel und jede geringste Missgunst, die er noch in sich aufkommen
lässt ist ein verwundbare Stelle. Hier sein auf Siegfrieds Lindenblatt
erinnert.
Bei dieser Art der Überwindung des Bösen, bei der man wie vorhin
empfohlen, das Feindliche als einen Teil von sich selbst fühlen soll –
aufgrund der Wesenheit aller Dinge – ist jedoch nötig, dass man von sich
selbst unterscheidet, d.h. man muss das niedere und höhere Selbst in
sich unterscheiden lernen.
Aber nicht nur unterscheiden, sondern auch wirklich scheiden
lernen. Dies geschieht einfach indem man das höhere Selbst in sich
wirken lässt – wiederum durch Duldung.
Man erhebt sich dadurch selbst in die höhere Welt, in dem die Wesenheit
aller Dinge als eine Tatsache gefühlt und erkannt wird. Dagegen ist man
sozusagen über Wasser, man befindet sich über der Region der
Gegensätze, des Feindlichen und Zerstörenden. Man befindet sich in der
Welt der Harmonie und der Einheit. Man wird dann alles anscheinend Böse
furchtlos an sich herankommen lassen.
Es kann einem keinen Schaden bringen, sondern es wird sich umwandeln.
Von diesem Bewusstseinszustand geht eine solche Macht aus, dass sie
selbst in die Welt der Gegensätze hereinreicht und hereinwirkt, dass sie
z.B. den physischen Körper des Menschen beeinflussen kann, wodurch
Krankheit, Alter, und selbst der Tod überwunden werden kann. Heilung von
Krankheit durch Autosuggestion oder durch den Glauben ist eine
kleine Andeutung dieser Macht.
Auf etwas anderes muss nun bei der Überwindung des Bösen durch Toleranz
noch Rücksprache genommen werden. Es ist Furchtlosigkeit notwendig. Man
muss imstande sein, das Böse an sich herankommen zu lassen. Dies ist
nicht anders möglich, denn der Kampf wird ja nicht ausser uns, sondern
in uns selbst gefochten. Dies ist aber auch selbstverständlich, denn
wenn man, wie vorhin gesagt, das Feindliche der Wesenheit noch als einen
Teil von sich selbst empfinden soll, so verträgt sich das Verhalten
nicht mit dem Begriff parieren, fernhalten, denn dadurch gelangt
man sofort wieder in die Welt der Getrenntheit und unterliegt früher
oder später.
Diejenigen Menschen, die ängstlich alles etwaige Schädliche, Feindliche,
Nachteilige, Böse fernzuhalten suchen und bei allem Fremdartigen besorgt
sind, dass nur ja nichts schadet, leben sehr in der Welt der
Zweiheit, der Gegensätze und werden früher oder später unterliegen oder
irgend Misserfolg haben. Diese Tatsache zeigt sich sogar in ganz
äusserlichen Dingen im alltäglichen Leben, z.B. wer sich sehr vor
Erkältung fürchtet und fortwährend auf der Hut ist, dass er nicht von
einem Luftzug überrascht wird, der wird sicher jedem geringsten Lüftchen
zum Opfer fallen und sich auch wirklich erkälten. Wer dagegen mit den
Elementen Frieden schliesst, sich ihren Einflüssen anpasst, dem passen
sie sich an, bzw. dienen ihm, er wird oder bleibt gesund. Das was wir
Abhärtung, Gewohnheit nennen, ist also auch ein Resultat des
Toleranzprinzips, der Kraftgewinnung durch Ergebung, der Erhaltung durch
Aufhebung des Widerstandes.
Die richtige Anwendung der Naturheilweise der Gesundung durch Licht,
Luft, Wasser, Sonne, Wärme, Magnetismus usw. liegt nicht darin, dass man
diese Elemente mechanisch auf sich wirken lässt. Auch das sichert den
Erfolg nicht immer, dass man sich ihnen freiwillig aussetzt, sondern
einzig das, dass man sie angenehm findet, dass man ihre Einflüsse mit
dem Willen unterstützt in der Wirkung. Dies geschieht durch jenes
Verhalten, das nicht nur kein Widerstand, sondern eher eine Hinneigung
ist – Erwartung.
Wer z.B. bei einem Sonnenbad imstande ist, die Einwirkung der Sonne
nicht nur zu empfangen, sondern auch zu befördern der gestaltet ihren
Magnetismus und ihre chemische Ätherbestandteile usw., die in ihren
Strahlen enthalten sind, in Lebensmaterial um. Er zieht im wahrsten
Sinne des Wortes aus der Sonne Leben und Gesundheit. Dies tun die Tiere
instinktiv, wenn sie an der Sonne sitzen, sie meditieren über die
Sonne. Welch ausserordentliche Bedeutung es anderseits für die
Gesundheit hat, wenn man den nackten Körper dem natürlichen
Gewitterregen aussetzt, ist noch wenig bekannt, wird aber durch unsere
Idee vom Toleranzprinzip verständlicher.
Der Regen hierbei ist aber gar nicht die Hauptsache, sondern die
Empfindung ist es. Ebenso wie die angenehm erwärmenden Sonnenstrahlen
die Geschöpfe gewissermassen einladen sich empfindungsbedacht von ihnen
durchdringen zu lassen und sich in Leben umzuwandeln, falls der eigene
Lebenswille mitschwingt, ebenso bezwecken die auf die Haut gespritzten
Regentropfen eine gewisse elektrische Empfänglichkeit, die bereit macht,
die beim Gewitter besonders stark auftretende
atmosphärische Elektrizität in sich aufzunehmen, woraus Kraft und
Gesundheit entspringt. Hierbei ist aber wiederum diese Elektrizität
nicht der wichtige Faktor, sondern die Empfindung, die Mit-Empfindung
und dadurch Eröffnung für die Kraft, hauptsächlich Umwandlung derselben,
denn Assimilierung ist hier gleichbedeutend mit Umwandlung.
(Atmosphärische Luft einatmen, ist ja auch nur möglich durch die
Fähigkeit, sie umzuwandeln.)
Es kommt also nicht auf den jeweiligen Einfluss, auf das Element, auf
die Einwirkung an, sondern auf das, was man aus ihm macht in sich durch
Mitschwingung – Umwandlung durch Toleranz. So sehen wir: Sonnenschein
und Regen würden für des Menschen Gesunheitserhaltung bestimmt
ausreichend sein, gleich wie dies auch für das Tier genügt, wenn er mit
diesen Elementen richtig umzugehen wüsste, wenn er sich ihnen gegenüber
richtig zu verhalten wüsste. Das Mitgehen, das Mitschwingen, das
Mitgehen mit dem, was an einem herantritt, ist das, was erhält,
harmonisiert und Leben verlängert. Das Sträuben, das ängstliche sich
schützen, das Verharren ist das was stört, Leben verkürzt und zum
Untergang führt. Jede freiwillige Veränderung der Empfindung im Sinne
von Anpassung gebärdet neue Kraft, verlängert und erhält. Dagegen jedes
zwangsweise Verharren in der Empfindung als Schutz vor Unbequemlichkeit,
bringt Erstarrung, Verkrustung und Tod.
Wer in ungesunden Landstrichen zu reisen hat, kommt am besten durch,
wenn er sich genau den Lebensgewohnheiten der Eingeborenen des
betreffenden Landes anpasst; nicht nur in Bezug auf Diät, sondern auch
Kleidung, Medikamente usw. Ein ganz besonderer Faktor für die Erlangung
des Lebenselexirs ist die Beachtung des Gesetzes: Zyklus. Hierher gehört
auch die Tatsache, dass diejenigen Früchte und essbaren Naturprodukte am
zuträglichsten sind, die zu der ihr eigenen Jahreszeit, Reifezeit,
genossen werden. Jedoch
viel tiefer liegende Dinge sind es natürlich, die in Bezug auf
Lebenselexier in Betracht kommen. Wir haben ja hier nur von
Naturheilweise gesprochen. Aber wir haben gefunden, dass die richtige
Naturheilweise auf einem sehr tiefen Grund gebaut ist. Es ist nicht nur
Naturheilung, was hier in Betracht kommt, sondern auch Kunst des Lebens.
Nun wieder zurück zur Toleranz.
Die homöopathische Heilweise ist in noch höherem Masse auf dem Prinzip
der Toleranz aufgebaut. Sie
heilt Ähnliches mit Ähnlichem. Sie heilt eine Krankheit durch ein
Mittel, das sonst gerade diese oder ähnliche Krankheit erzeugt, wenn es
in starker Dosis einem gesunden Menschen gegeben wird. Im ersteren Falle
aber heilt es die Krankheit, weil das Mittel gewissermassen den den
Organismus regierenden Lebenswillen zwingt, sich in die Krankheit zu
ergeben, bzw. Die Anstrengung des Organismus zu unterstützen. Dadurch
schwingt die Krankheit aus. Dazu genügt dann aber schon lediglich eine
ganz feine, absolut unschädliche Verdünnung des betreffenden Mittels.
Die Allopathie dagegen wirkt positiv gegen Krankheit! Dadurch entsteht
nur ein gefährlicher Kampf im Organismus, der oft viel ruiniert und
wobei doch nichts gebessert wird. Die Allopathie stellt eine intolerante
Heilweise dar, daher auch die Bezeichnung einer ihrer Mittel: Antifebrin
(gegen Fiber) Antipyrin (gegen Feuer, Fieber), Antiseptyca (gegen
Fäulnis) Antiphlogistica (gegen Entzündungen), Antipascdica (gegen
Krämpfe).
Der Mensch von heute ist überhaupt voller Antidot, d.i. voller
Gegengift, ganz dem Kama-Mana, dem niederen Verstandesbewusstsein
entsprechend. Mit dem Anti aber hängt untrennbar auch die Furcht
zusammen, ja gerade hieraus entsteht die Furcht, da der Mensch eben in
der Welt des Gegensatz-Empfindens lebt, er wittert von überall her das
Böse. Unser Zeitalter ist faktisch von der Königin der Furcht
beherrscht. Sie umklammert den Planeten wie ein Drache der Finsternis.
Wir haben Furcht vor Bazillen, Furcht vor Krankheit, Furcht vor
Ansteckung, Furcht vor den Menschen, Furcht vor Armut, Not, Alter oder
Tod, Hölle, Teufel ja selbst Furcht vor Gott.
Wir fürchten uns vor uns selbst, vor unserem Schicksal, vor der Zukunft.
Wir kämpfen gegen all diese Dinge. Ein ganzes Leben lang kämpfen wir,
aber ohne Erfolg.
Wir werden nie Herr werden, selbst über das geringste dieser Dinge,
solange wir uns im Sinne eines Gegensatzes dazu verhalten. Unsere ganze
Nation kämpft, sie steht unter dem Zeichen des Antidot ohne zu wissen,
dass sie nur Kräfte verschwendet, und sie ist sich nicht bewusst, was
ihr gerade für wertvolle Schätze dadurch verloren gehen, und was ihr
alles ausserdem dadurch entzogen wird.
Das geheime Lebenselexir der Alten bestand im richtigen Verhalten allen
Dingen gegenüber. Dadurch gewannen sie alle Dinge und die Kraft, die
alle Dinge verbindet und beherrscht. Der Stein der Weisen bestand in
nichts anderem als in der Erkenntnis der Einheit aller Dinge und in dem
Besitz der daraus entspringenden Unverletzlichkeit. Der sogenannte
Alkahest der Alchemisten, der als Universal-Auflösungsmittel beschrieben
wurde, bedeutet im höheren Sinne die Kraft der Unbefangenheit und
Toleranz, die, wenn magisch gesteigert alle Dinge löst und verwandelt.
Die Macht der Liebe, wovon die Religionen alle sprechen und behaupten,
dass sie die Welt beherrsche und dass sie höher stehe als das Wissen,
ist auch nichts anderes als die Bewusstseinsverschmelzung mit der Seele
der Welt, ohne Ausschluss selbst des geringsten Wesens. Es steht höher
als das Wissen, weil es in sich selbst alles Wissen schon birgt und das
Verstehen der Welt hervorbringt.
Der Mensch kann alles bezwingen, wenn er seinen Gegensatzwillen umkehrt
und seinen eingebildeten Wahn, dass er gemäss seines niedrigen
Erkenntnisvermögens etwas wesentliches vollbringen könne, aufgibt. So
wird Krankheit verschwinden, je mehr er es fertigbringt, sich mit der
Ursache als Kraft, die die Krankheit hervorbringt, zu indentifizieren.
Gesundheit ist verhältnismässig leicht zu bewahren, indem man bösartig
scheinende Einflüsse tolerant behandelt, d.h. sie unbefangen an sich
herankommen lässt und sie als gut zu empfinden und sich zwingt. Der
Kampf ist immer mit uns selbst, mit unserem Empfinden und Denken. Hierin
liegt das Rätsel der Überwindung von allem, von Tod und Leben, von Welt
und Natur. In uns selbst ist das Schachtfeld – Bhagavad Gita.
Und weiter: Armut und Not können nicht andauern bei dem, der sich ganz
in sein Schicksal fügt, denn dieses schwingt dadurch aus. Der Zustand
des Alters kann nicht eintreten, wenn ein Mensch schon vorher ein Weiser
wird, ehe ihn die Zeit dazu zwingt. Auch die Spuren des Alters werden an
ihm vorübergehen, wenn er selbst zu der Kraft wird, die den Körper
gestaltet.
Und selbst die Macht des Todes kann wenigstens für den ätherischen Teil
des Körpers - gebrochen werden für einen Menschen, der gegen den Tod
tolerant ist, d.h. der sich nicht gegen den Tod sträubt, sondern ihn bei
Lebzeiten schon an sich herantreten lässt.
Stirb, eh du tot bist,
heisst eine Regel der mohammedanischen Derwische. Dies ist dann der
mystische Tod, wobei der physische Körper ausgeschieden wird anstatt
umgekehrt, wie es beim gewöhnlichen Sterben der Fall ist, wo der
Astralkörper ausgeschieden wird, weil der physische Leib ihn nicht mehr
halten kann. So wird denn der Mensch nicht nur den Tod bezwingen durch
Toleranz, sondern selbst den Teufel, d.h. das verkörperte Böse. Denn er
erkennt es überall, wo es auftritt, als ein blosses Spiegelbild des
Guten, als seinem Wesen nach gut. Und so verliert es kraft dieser
Erkenntnis seinen bösen Charakter, seinen Stachel. Die Hölle fürchtet
der Weise nicht, er kennt eine solche nur als Bewusstseinszustand, in
der er aber nie eintritt, und wozu ihn auch niemand zwingen kann, selbst
er selber nicht, infolge seiner umfassenden Erkenntnis.
Aber auch die Gottheit fürchtet ein solcher Mensch selbsverständlich
nicht, denn er empfindet sie nicht als ausserhalb seiner selbst
befindliches Wesen, das ihn leben und sterben lässt, ihn in den Himmel
oder eventuell in die Hölle kommen lässt, sondern als die Kraft und das
Wesen, in dem er selber lebt. Er erkennt in sich den Schöpfer der Welt.
Zur vollständigen Gotteserkenntnis ist allerdings die grösste Toleranz
nötig, die Duldsamkeit muss hier vollkommen sein, sodass das eigene
Selbst ganz verschwindet. Das Gegensatz - und Getrenntheits -
Bewusstsein muss hier ganz aufgehoben sein. Hierzu ist nur der Adept
fähig, der in Nirwana eingeht. Vollkommen tolerant ist also nur der
Adept. Vollkommene Toleranz ist nur auf der Nirwana-Ebene möglich. Hier
ist Toleranz die Gottheit selbst. Das Nirwana-Leben ist Gottes Leben.
Aber jeder Mensch kann schon jetzt die Segnungen der Toleranz empfinden.
Wer Toleranz im Wesen begreift und ihr Wesen in Fleisch und Blut
aufgenommen hat, der wird durch sie sowohl sein körperliches als auch
sein seelisches Leben beherrschen lernen. Er wird von jedem Zwange frei
und braucht sich nur noch in dem Masse körperlichen und seelischen
Lebensbedingungen zu unterwerfen, als solche zur Vollführung seiner
irdischen Laufbahn knapp notwendig sind.
Viele Dinge fallen weg, die man bisher für unbedingt zum leben notwendig
erachtete. So wird z.B. das Schlafbedürfnis und der Nahrungszwang
vermindert. Überhaupt, was bisher Zwang war, geschieht mehr aus freiem
Willen. Es gibt einen gewissen Schlafzwang
(Für die Überwindung des Schlafzwanges gilt die Formel: Schlaf plus
Schlaf! D.h. wer es, anstatt sich der Ruhe zu enthalten, vermag, das,
was mit dem Körper während der Ruhe vorgeht (Erneuerung der Kräfte und
Ausspannung) mit seinem Willen zu unterstützen, der wird in zehn Minuten
eine Stärkung erfahren, die ihm eine Stunde Schlaf ersparen kann.)
und Essenszwang
(Wer vermag das Bestreben des Organismus: Nährstoffe aufzusaugen, zu
unterstützen (anstatt zu erzwungenem Fasten zu vereiteln), der wir viel
eher fasten können als ein anderer, denn er vermag das, was der
Organismus benötigt, aus weniger Stoffen zu ziehen).
usw., der einen bisher überfiel, und den man jetzt auch überwindet,
indem man die Astralformen, die solches hervorriefen durch die Kraft der
Toleranz, wie oben geschildert, umwandelt. Dann wird man nur sehr wenig
den körperlichen Bedürfnissen Rechnung tragen brauchen. Was hier
erreicht werden kann, ist viel, es deckt sich mit dem, was die
Chelaschaft mit sich bringt.
Einzig durch innerliche Verarbeitung und innere Verwirklichung der
Toleranz-Kraft wird auch das entwickelt, was man höhere Sinne nennt. Man
wird nämlich zunächst lernen, die Dinge der Aussenwelt anders auf sich
einwirken zu lassen als bisher.
Wenn man bisher einen Gegenstand betrachtete, so war man nur auf das
aufmerksam, was den äusseren Sinnen entgegenkam: Form, Farbe, Geruch
usw. Man stellte sich also mit dem Ding in Gegensatz, daher das Wort
Gegen-Stand. Man hält sich
das Ding künstlich von sich getrennt, nimmt aber gerade dadurch nicht
das Ding selbst wahr, sondern nur die Erscheinung, das was nicht das
Ding ist, die Maske. Daran Schuld ist wiederum, wie schon so oft
erwähnt, nur die Empfindung, die an einem Ding gegenüber hat, und diese
ist immer relativ beschränkt, denn die Dinge sind uns entweder angenehm
oder unangenehm, oder gleichgültig. Das was darüber steht, das von dem
eigentlichen Wesen des Dinges kommt, kennt man nicht, weil man von
seiner eigenen Empfindung getragen wird.
Das Angenehme oder Unangenehme dieser äusseren Eigenschaften der Dinge –
Form, Farbe usw. – kommt eigentlich nur von uns. Es ist also eine
gewisse Intoleranz, die uns das wirkliche Ding, das Ding an sich,
fernhält und die höheren Sinne blind macht.
Betrachten wir z.B. eine Rose, so können wir entzückt sein von ihrer
schönen Form, Farbe, ihrem Geruch usw. Aber gerade dieses Verhalten
fesselt und trennt uns von der wirklichen Rose. Wir werden infolge des
Gegensatz-Empfindens von den Eindrücken ihrer äusseren Wesenheit
getroffen – Ein Druck – und werden dadurch blind für das innere Wesen,
indem wir uns von der Form berücken lassen. Wir müssen uns auf das Leben
der Rose konzentrieren, nicht bei der Form stehen bleiben oder Halt
machen. Wir müssen gewissermassen hinter die Rose sehen, sodass die
Eindrücke der Form uns nicht mehr treffen, kurz, wir müssen uns mit der
Rose selbst indentifizieren. Dadurch werden wir erreichen, dass bei
dieser Art der Betrachtung die äusser Form der Rose zu etwas gänzlich
Unwesentlichem zusammen schmilzt, während dessen in uns höhere Sinne in
Kraft treten. Etwas neues wird vor der Seele auftauchen, und das Alte
wir zu einem blossen Schatten.
Das hinter der Rose sehen ist schwer zu beschreiben. Als
eine zwar nicht ganz zutreffende Analogie mag folgende gelten: Man denke
sich vor einer Fensterscheibe stehend, hinter welcher sich eine
Landschaft ausbereitet. Man kann nun dabei zweierlei beobachten, je
nachdem, worauf man seine Aufmerksamkeit lenkt. Erstens kann man die
Fensterscheibe selbst betrachten. Hierbei bemerkt man die kleinen
Pünktchen oder Bläschen im Glas, auch die Farbe und den etwaigen
Schmutz. Je genauer man dies nun betrachtet, desto weniger wird man von
der Landschaft, die dahinter ist, etwas wahrnehmen. Sie ist nebelhaft
verschwommen. Zweitens ist das umgekehrt möglich. Man kann nämlich
während man sein Augenmerk auf die Szenerie draussen richtet, die
Fensterscheibe nahezu verschwinden lassen für das Auge. Sie wird zu
einem Schatten, die das Auge nicht mehr interessiert. Dies nur als
Beispiel wie geübt werden soll. Es ist aber empfehlenswert, dass man die
Übungen nicht nur mit dem Angenehmen, sondern auch mit dem
Unangenehmen vornimmt, nicht nur mit der Rose, sondern eventuell
auch mit der Kröte, denn sowohl Liebe – Sonderneigung – als auch Hass
und Verachtung – Sonderabneigung ist Illusion und Intoleranz und muss
überwunden werden durch Konzentrierung auf die Wesenseinheit aller
Dinge, die Segnende Liebe.
Wir sehen auch hier, bei der Entwicklung der höheren Sinne, ist es das
Toleranzprinzip, um das sich alles dreht, von dessen Verwirklichung im
Menschen alles abhängt, alle wahre Macht und alles wahre Wissen.
Unsere gegenwärtige Generation muss das Wesen der Toleranz wieder
kennen lernen. Dies wird gegenwärtig indirekt versucht durch
verschiedene Reformbestrebungen. Die theosophische Bewegung versucht
dies direkt. Ihr Grundsatz bezüglich der Toleranz hat nicht nur einen
äusseren sozialen Wert, sondern auch einen inneren für jeden einzelnen,
er führt zu einer okkulten Macht.
Wie schon oft erwähnt ist diese Toleranz eine gewisse Unbefangenheit,
eine Bereitschaft, dem Fremden und Neuartigen gegenüber. Es hat also mit
Reform etwas gemein, der man sich unterwirft, Reformbereitschaft im
abstrakten Sinne innere Reform, Veränderung der Gemütsverfassung.
Tatsächlich: Auch alle äusseren Reformbestrebungen appellieren an das
Prinzip der Toleranz, denn sie führen das Motto, die Aufforderung, sich
für etwas Neues herbeizulassen, sich etwas bis jetzt Fremden,
Ungewohnten zur erschliessen. Konservartismus hängt immer mit Intoleranz
zusammen. Auch in dieser Beziehung wird der Okkultist immer freier und
toleranter werden. Nehmen wir doch ruhig das Neue an, selbst wenn wir im
Alten die Wahrheit erkannt haben. Wir sollen ja in diesem Falle das Alte
allerdings festhalten. Aber sträuben wir uns immerhin nicht gegen das
Neue, wir gewinnen ja nur, wenn wir die Wahrheit auch im neuen Gewande
erkennen, denn jede Reform ist nur Veränderung der Form. Also unser
Bestreben sei: Den guten Kern in allem zu suchen, zu sehen.
Wir wachsen aber dann über die Form hinaus und werden nicht mehr von ihr
verletzt, denn wir können uns in jede Form schicken. Wir können die
Wahrheit, die wir erkannt haben, in jeder Form zum Ausdruck bringen
(neue Religionen, Weltanschauungen.) Und gerade dadurch wird es uns
möglich, die Wahrheit, die wir in einer bestimmten Form erkannten, noch
tiefer und dauernder zu erfassen.
Dr. Friedrich Schwab
Vorträge und Aufsätze zur Esoterik und Parapsychologie
"Das Geheimnis des geistigen Erfolgs."