„ So wie ein Mensch den Sinn eines Buches nicht erfassen kann, wenn er es nur in der Hand hält, oder die Seiten umblättert, ohne sie zu lesen, so bringt ihm auch der Ablauf seines Schicksals keinerlei Gewinn, so er den Sinn nicht erfasst; die Geschehnisse folgen einander wie die Blätter eines Buches, die der Tod umwendet; er weiss nur: sie erscheinen und verschwinden und mit dem letzten ist das Buch zu Ende.

 

Er weiss nicht einmal , dass es von neuem aufgeschlagen wird immer wieder, bis er endliche lesen lernt. Und solange er das nicht kann, ist das Leben für ihn nur eine wertloses Spiel, gemischt aus Freude und Leid.

                           

Wenn er aber endliche die lebendige Sprache darin zu begreifen beginnt, dann schlägt sein Geist die Augen auf, und fängt an zu atmen und liest mit.

 

Dies ist die erste Stufe auf dem Wege zur Lösung des Leichnams, denn der Leib ist nichts anderes als erstarrter Geist; er löst sich, wenn der Geist zu erwachen beginnt, wie Eis in Wasser zergeht, wenn dieses zu sieden beginnt.

 

Sinnvoll in der Wurzel ist jedes Menschen Schicksalsbuch, aber die Buchstaben darin tanzen wirr durcheinander für jene, die sich nicht die Mühe nehmen, sie ruhevoll zu lesen, einen nach dem anderen und so, wie sie gesetzt sind.

 

Das sind die Hastigen, die Raffgierigen, die Ehrgeizigen, die Pflichtvorschützer, die vergifteten vom Wahn: ihr Schicksal anders gestalten zu können, als es der Tod in das Buch geschrieben hat.

 

Doch wer dem Umblättern, dem müssigen Kommen und Gehen der Seite keine Beachtung mehr schenkt, sich nicht mehr darüber freut und nicht mehr darüber weint und wie ein aufmerksamer Leser gespannten Sinnes Wort um Wort zu verstehen strebt, dem wird alsbald ein höheres Schicksalsbuch aufgeschlagen, bis als letztes und höchstes für ihn als Erwählten das mennigrote Buch vor ihm liegt, das alle Geheimnisse birgt.

 

Das ist der einzige Weg, dem Kerker des Fatums zu entrinnen; jegliches andere Tun ist ein qualvolles, vergebliches Zappeln in den Schlingen des Todes.

 

Die Ärmsten im Leben sie die, die vergessen haben, dass es eine Freiheit jenseits des Kerkers gibt, - die, im Käfig geborenen Vögeln gleich, zufrieden bei vollem Futternapf, das Fliegen verlernt haben. – Für sie gibt es nimmermehr eine Erlösung.

 

Unsere Hoffnung ist, dass es dem grossen, weissen Wanderer, der auf dem Wege ist herab in die Unendlichkeit, gelingen möge die Fesseln zu brechen.

 

Das mennigrote Buch aber werden sie nimmer mehr schauen.

 

Wem es aufgeschlagen wird, der lässt auch im höheren Sinn keinen Leichnam mehr zurück; er reisst ein Stück Erde hinein ins Geistige und löst es darin auf.

 

So arbeitet er mit am grossen Werk göttlicher Alchimie; er wandelt Blei in Gold, er wandelt Unendlichkeit in Ewigkeit.  - - .„

 

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Gustav Meyrink

 

Auszug aus dem

 "weissen Dominikaner"

"das mennigrote Buch"