Ein offener Brief

Nur für die Leser der Lotusblüten bestimmt
 (Franz Hartmann, aus dem Jahre 1896/I Semester)
 
  Wie alle diejenigen bereis wissen, welche in den Lotusblüten vertretene und in den von Mitgliedern der "Theosophischen Gesellschaft" herausgegebenen Büchern und Journalen dargelegte Weltanschauung kennen gelernt haben, wird mit dem Ende dieses Jahrhunderts (19, Jahrhundert)  zwar nicht die Welt untergehen, wohl aber eine Periode von geistiger Verfinsterung eintreten, während welcher für lange Zeit eine geistige Erleuchtung, Auffassung geistigen Lichts und geistiger Wahrheiten viel schwieriger sein wird, als bisher. Dies wird denjenigen nicht schwer zu begreifen sein, welche mit den Gesetzen der Evolution des Geistes im Weltall bekannt sind und wissen, dass auch hier Tag und Nacht periodisch wechseln, und dass es auch im Geistigen eine "Sonnenwende" gibt, d.h. Perioden, während deren der Geist der Menschheit sich der Sonne der göttlichen Weisheit nähert, und solche während deren er sich wieder von ihr entfernt. Eine solche "Sonnenwende"  findet am 11. April 1898 statt, da in diesem Tage die ersten 5000 Jahre unseres Kaliugs zu Ende gehen. Die geistige Lichtwelle, welche sich die letzten 20 Jahre über die Welt ergoss und dem blinden Materialismus ein Ende machte, wird dann allmählich abnehmen und am Ende dieses Jahrhunderts für lange Zeiten verschwinden. Dies ist keine Phantasie, sondern eine Tatsache, die jedem bekannt ist, der die geistigen Naturgesetzte, wie sie in der Geheimlehre beschrieben sind, kennt.

Unter diesen Umständen erscheint es dringend notwendig, dass die wenigen Okkultisten, denen es nicht bloss um die Befriedigung ihrer wissenschaftlichen Neugierde, sondern um das Wohl der Menschheit zu tun ist, sich aufraffen und mit vereinten Kräften dahin wirken sollten, solange der Tag des Lichtes noch währt, von demselben den ausgiebigsten Gebrauch zu machen, umso viel als möglich Aufklärung zu verbreiten, ehe die Nacht eintritt, in der niemand mehr schaffen kann. Diese Notwendigkeit allein ist es, welche den Verfasser der Lotusblüten (FH) bisher veranlasst hat, in Deutschland als Schriftsteller aufzutreten, und welche ihn jetzt dazu bewegt, mit diesem Aufrufe vor die Öffentlichkeit zu treten, was seinem Wunsche und seinen Neigungen umsomehr widerspricht, als er nicht die Absicht hat, irgend einem Äusseren Vereine beizutreten, oder sich an einem solchen zu beteiligen. Anders dagegen verhält es sich mit einer geistigen Vereinigung, d.h. mit einem inneren Kreis von Gleichgesinnten, welche dasselbe hohe Ziel verfolgen und sich in dem Streben nach diesem Ziele zusammenfinden.

Die Ideen einer solchen geistigen Verbrüderung zum Zwecke der praktischen Verwendung der Lehren der Weisheit, und nicht die blosse Propaganda für neue Theorien, lag bei der Bildung der "Theosophischen Gesellschaft" durch H.P. Blavatsky zu Grunde. Hören wir von ihr selbst, was sie nach vierzehn Jahren über den Erfolg dieser Gesellschaft sagt:
"Die Theosophische Gesellschaft ist bereits das vierzehnte Jahr ihres Daseins gelangt, und obgleich sie in Äusserlichen und Gemeinnützlichen geradezu staunnenswerte  Resultate erlangt hat, so hat sie doch gerade in demjenigen Punkte der ihre Hauptaufgabe war, vollständig Fiasko gemacht. Als ein Verein zur allgemeinen Verbrüderung, ja selbst als ein bloss geselliger Verein, ist sie zu dem tiefen Standpunkte aller derjenigen Vereine herabgesunken, welche grosse Protensionen machen, welche sie nicht erfüllen, und sich hochtrabende Namen beilegen, die sie nicht verdienden. Auch kann dies nicht damit entschuldigt werden, dass die Gesellschaft durch die öffentlichen Angriffe, welche ihre Feinde im Jahre 1884 auf sie machten in ihrem aufblühen gehindert und beinahe zerstört wurde; denn schon vor jener Zeit war in ihr nicht jenes Zusammenhalten zu finden, welches si befähigt hätte, nicht nur allen äusseren Angriffen zu widerstehen, sondern es auch möglich gemacht hätte, jene grössere und tatsächliche (geistige) Hilfe zu erhalten, welche von denjenigen (den Adepten) zu erwarten ist, die stets bereit sind, sie jenen zu teil werden zu lassen, welche fähig sind, diese Hilfe zu empfangen. Ale es galt, Schwierigkeiten zu überwinden, da waren nur zu viele gleich bereit, zu zweifeln und davonzulaufen, und nur wenige fanden sich, die nicht für sich selbst, sondern für die Sache arbeiteten. Die feindlichen Angriffe lehrten der Theosophischen Gesellschaft etwas mehr Zurückhaltung in Bezug auf ihr äusserliches Wirken, aber ihre inneren Verhältnisse wurden dadurch nicht gebessert, und die Mitglieder bedürfen in ihrem Streben nach geistiger Entwicklung immer noch jener Hilfe (der Adepten) welche sie nur dann zu fordern ein Recht haben, wenn sie unter einander einig sind (d.h. wenn sie die allererste Bedingung erfüllen, auf welcher die Konstitution dieser Gesellschaft beruht). Die Meister der Weisheit können nur wenig Einfluss auf eine Körperschaft ausüben, welche nicht einheitlich fühlt, und die erste Grundbedingung der Brüderlichkeit ohne Rücksicht auf Meinungsverschiedenheiten etc. nicht erfüllt, deren Mitglieder dagegen es als ihren Lebenszweck zu betrachten scheinen, sich gegenseitig zu verunglimpfen, verurteilen und sogar öffentlich zu beschimpfen." So schrieb H.P: Blavatsky im Jahre 1891.

Seit jener Zeit ist dieser Übelstand anstatt besser, nur noch viel schlimmer geworden. Grosse Geldsummen, welche zum Teil von deutschen Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft stammten und dazu hätten dienen sollen, die Menschheit veredeln zu helfen und den Irrtum zu zerstören, wurden von gewissen "Leitern" der Gesellschaft in England dazu benutzt, um einen ihrer "Brüder" öffentlich zu verdächtigen und zu verketzern. Die ganze Energie einer Gesellschaft, welche sich eine "theosophische" nennt, und die ihre Kraft hätte dazu verwenden sollen, sich dem göttlichen zu nähern, wurde aufgebraucht, um sich über gewisse äusserliche Thorheiten zu streiten, die, wenn man sie beim richtigen Lichte betrachtet, nicht den Atem wert sind, den man bei ihrer Besprechung verliert, und das Ganze lief schliesslich darauf hinaus, nicht für die Wahrheit, sondern vielmehr für eine gewisse Clique, bestehend aus einer Art von selbstgemachter "theosophischer Aristokratie" Propaganda zu machen. So geschah es in England; was aber in Deutschland geschah, wo die Dogmatik zu Hause ist, darüber zeihen wir es vor, zu schweigen. 

Aus alledem geht hervor, dass weder in England noch in Deutschland der Boden reif für eine allgemeine ausgebreitete Gesellschaft von Theosophen. Zu solchen gehören Leute, welche selbstlos und uneigennützig sind, keine Schwärmer, Phantasten, Windbeutel und Schreier, sondern solche, welche die Fähigkeit haben, zu begreifen, was "Theosophie"  oder die "geistige Selbsterkenntnis" eigentlich ist, Eine angeblich "theosophische Gesellschaft", in welcher sich keine Theosophen befinden, ist eine Lüge, und wenn dieselbe auf ihre Flagge schreibt:"Es geht kein Gesetz über die Wahrheit", dabei aber von der Wahrheit nichts weiss und gegen die Wahrheit handelt, so wird aus einer solchen Gesellschaft ein Possenspiel, dessen Treiben jeden verständigen Menschen abschrecken muss.

An alledem ist nicht die Verfassung der "TG", sondern die Schwachheit der menschlichen Natur ihrer Mitglieder schuld. Dadurch, dass ein Mensch ein gesiegeltes Diploma von London erhält, welches ihn zu einem Mitgliede der "TG" macht, wird seine menschliche Natur nicht geändert. Eine wirkliche TG kann so lange nicht allgemein sein, so lange man nicht allgemein hierzu taugliche Elemente findet. Dies hat auch H.P.Blavatsky eingesehen und deshalb im Jahre 1891 einen inneren Kreis E.S. (Eastern School, oder die Schule der Weisheit des Ostens) gegründet. Sie sagt in Bezug darauf:

"Aus obigen Gründen wurde beschlossen, die wenigen tauglichen Mitglieder in der "TG" enger untereinander zu verbinden uns sie zu einem tatkräftigen Wirken zu berufen. Nur durch eine ausgewählte Gruppe von mutigen Seelen, einer Hand voll von entschlossenen Männer und Frauen, die nach echter geistiger Entwicklung dürsten und zum wahren Seelenbewusstsein gelangen wollen, kann die "TG" auf denjenigen Standpunkt gebracht werden, der sie befähigt, den Zweck zu erfüllen, für den sie ins Leben gerufen wurde. Nur durch eine Gruppe von Personen, welche, wenn sie auch persönlich nicht miteinander bekannt sin, dennoch geistig und intellektuell zusammenwirken,  kann die äussere Gesellschaft durch Einheit und Harmonie Kraft und Stärke erlangen. Solche Personen, indem sie für das Ganze sich aufopfern, wirken dabei für sich selbst, denn es ist ein Gesetz im Geistigen, dass man umso mehr erhält, je mehr man gibt."

Dass eine "Schule der Weisheit des Ostens" keinen besonderen Wert hat, wenn nicht an ihrer Spitze ein wirklich Weiser des Ostens steht, um sie zu lehren, versteht sich eigentlich von selbst. Nun wissen aber die Leser der "Lotusblüten" bereits, dass es solche Meister oder Adepten gibt und dass dieselben, um ihre Schüler zu lehren, es nicht nötig haben, äusserlich mit ihnen zu reden oder Vorlesungen zu halten, sondern, dass sie diejenigen, welche hierfür empfänglich sind, auf geistige Weise ihre Gedanken mitteilen können. Wenn schon ein gewöhnlicher Mensch seinen Gedanken auf einen anderen übertragen kann, um wie viel mehr ein Adept, d.h. ein Mensch, in dessen Organismus die geistigen Kräfte vollkommen entwickelt und zum Selbstbewusstsein gelangt sind; ein Mensch der hohe Geisteskräfte beherrscht, welche im gewöhnlichen Menschen unbewusst schlummern. Um sich aber für den Einfluss der Ideen eines Meisters der Weisheit empfänglich zu machen, dazu genügt nicht Gelehrtheit und Vielwisserei, sondern vielmehr Selbstbewusstsein, Reinheit und Energie. "Nur diejenigen können sich den Meistern nähern, welche sich zu der geistigen Ebene, auf welcher dieselben sind, aufschwingen können; nicht aber diejenigen welche diese Meister zu sich herunterziehen wollen."

Dies wurde schon vor vielen Jahren gelehrt, und es gab manche, die behaupteten, dass, wenn die Meister ihnen einen äusserlichen Beweis ihres Wohlwollens gäben, so wären sie bereit, ihnen zu folgen.  Wenige erhielten einen solchen "Beweis", denn die Meister verlangen nicht, dass man an sie glaube und sie anbete, sondern dass man an die Wahrheit glaube und dem Lichte der Selbsterkenntnis sein Herz eröffne. Wer das Grosse, Edle und Erhabene nicht empfinden kann, ohne dass man es ihm erst "beweist",  der wird auch durch alle "Beweise", die man ihm geben kann, nicht überzeugt werden, dass es etwas Edles und Erhabenes gibt.

Wie unter den Gelehrten diejenigen den kleinen "inneren Kreis" bilden, welche selber zu denken fähig sind, während der grosse Haufe von Buchwürmern und Autoritätennachbetern den grossen "äusseren Kreis" bilden, so bilden unter den Schülern der Theosophie nur diejenigen den inneren Kreis, welche die Fähigkeit haben, das Ewige vom vergänglichen zu unterscheiden, und die Willenskraft besitzen, sich in die Freiheit und Unsterblichkeit zu erheben. Wer sich dem Meister nahen kann, der wird seinen Segen erlangen.

Dies sind somit die Bedingungen zum Eintritt in den "inneren Kreis". Es bedarf dazu keiner Diplome, Siegel, Passworte, Eide, Ceremonien oder anderer Narrenpossen; wohl aber wird keiner Fähig sein, sich zu der nötigen Höhe aufzuschwingen, wenn er nicht durch einen festen Willensentschluss zu ihr emporgetragen wird, und dieser Willensentschluss wird dadurch lebendig gemacht, dass man sich selber gelobt, auf dem einmal betretenen Wege auszuharren und sich durch keine Hindernisse von der Veredelung seiner Selbst abwendig machen zu lassen. Durch dieses innerliche Gelübde wird die Hilfe der Meister angerufen und man erlangt sie um so mehr, als es einem ernst bei der Sache ist. Ein Gelübde, das nur auf dem Papiere steht, hat keinen Wert, Wer aber ernstlich seinem Egoismus entsagt und seine Kräfte der ganzen Menschheit widmet, der erlangt dadurch das höchste von allen Gütern, das Selbstbewusstsein der Unsterblichkeit  und die Erkenntnis der Geheimnisse des Geistes in der Natur.

Um die Bildung eines wirklichen inneren Kreises in Deutschland, bestehend aus Leuten, welchen es ernst bei der Sache ist, behilflich zu sein, dazu wurden die "Lotusblüten" gegründet. Wer für die darin vertretene Weltanschauung ein Interesse und Verständnis hat, der gehört bereits in diesen inneren Kreis; wer kein Interesse dafür hat, dem würde auch der äusserliche Beitritt in einen sogenannten "esoterischen Kreis"  wenig nützen. Für diejenigen, welche sich bloss unterhalten und oberflächlich belehren lassen wollen, genügt die Bildung von Lesevereinen.

Es ist der Wunsch des Verfassers, dass jeder Leser der "Lotusblüten" ein wirkliches Mitglied des wahren inneren Kreises werde, in welchem nicht bloss gepredigt, sondern gehandelt wird. Jedes solche Mitglied sollte selbst Stern, wenn nicht eine Sonne, werden, welcher Licht auf seine Umgebung verbreitet.

Dies ist gerade in dem jetzigen Zeitpunkt um so mehr wünschenswert, als mit dem Eintritte der oben erwähnten Periode auch in politischer sozialer Beziehung grosse Umwälzungen bevorstehen. Nach zuverlässigen astrologischen Berechnungen mit denen auch gewisse Prophezeiungen übereinstimmen steht eine grosse Katastrophe nahe bevor. Nicht nur sollen grosse geologische Veränderungen stattfinden, sondern Völkerkriege und eine Revolution, gegen welche der Schrecken der französischen  Revolution nur ein Kinderspiel war.

Ob wir nun daran glauben oder nicht, dass wie uns die "Geheimlehre" berichtet, Europa am Vorabende einer grossen Umwälzung steht, so weiss doch jeder, der sich mi der wirklichen okkulten Wissenschaft beschäftigt hat, dass die Leidenschaften, welche jetzt allgemein durch herrschsüchtige Personen erregt werden, Kräfte sind, welche die Seele der Welt bewegen, und welche, wenn sie sich bis zu einem gewissen Grade angesammelt haben zum Ausbruch kommen und eine allgemeine Katastrophe herbeiführen müssen. Vorzeichen hiervon sind bereits zur Genüge vorhanden.

Der Zweck einer geistigen theosophischen Vereinigung wäre es deshalb, auf geistigem Wege den Mächten der Finsternis entgegenzuarbeiten durch die Verbreitung des Lichtes und der Lehren der allgemeinen Menschenliebe und Verbrüderung , welche nicht bloss auf äusserlicher Vereinbarung, sondern auf der wahren Erkenntnis der Einheit des göttlichen Wesens in allen Geschöpfen beruht.