Auszug aus Gustav Meyrink's Roman (Das grüne Gesicht)
Aus Gustav Meyrink  "Das grüne Gesicht" (Herman Bauer Ausgabe 1963 S. 101)

"Darf ich Ihnen einen Rat geben Mejufruow?" - Swammerdam blieb stehen und sah ihr ernst in die Augen. - " Ich begreifen sehr wohl, dass das, was Sie vorhin mit angehört haben, Sie nur verwirren muss. Dennoch können Sie grossen Nutzen daraus ziehen, wenn Sie es als erste Lehre auffassen und geistige Unterweisung nicht bei anderen suchen, sondern in sich selbst. Nur die Belehrungen , die der eigene Geist uns schickt, kommen zur rechten Zeit und für sie sind wir reif. Für die Offenbarungen an anderen müssen Sie taub und blind werden. Der Pfad zum ewigen Leben ist schmal wir die Schärfe eines Messers; Sie können anderen weder helfen, wenn Sie sie taumeln sehen, noch dürfen Sie Hilfe von Ihnen erwarten. Wer auf andere schaut, verliert das Gleichgewicht und stürzt ab. Hier gibt's kein gemeinsames Vorwärtsschreiten wie in der Welt, und so unbedingt nötig auch ein Führer ist; er muss aus dem Reich des Geistes zu Ihnen kommen. Nur in irdischen Dingen kann ein Mensch Ihnen als Führer dienen und seine Handlungsweise eine Richtschnur sein, um ihn zu beurteilen. Alles, was nicht aus dem Geist kommt, ist tote Erde, und wir wollen zu keinem anderen Gott beten, als zu dem, der sich in unserer Seele offenbart.

"Wenn sich aber kein Gott in mir offenbart?" fragte Eva verzweifelt,

"Dann müssen Sie in einer stillen Stunde nach ihm rufen mit dem Aufgebot aller Sehnsucht, deren Sie fähig sind."

" Und dann glauben Sie, wird er kommen?  Wie leicht wäre das!"

" Er wird kommen! Aber - entsetzten Sie sich nicht: - zuerst als Rächer Ihrer früheren Taten, als der furchtbare Gott des alten Testamentes, der gesagt hat: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er wir sich offenbaren in plötzlichen Veränderungen Ihres äusseren Lebens. Alles müssen Sie zuerst verlieren, sogar - " Swammerdam sagte es leise, als fürchte er sich, sie könne es hören - "sogar Gott, wenn sie ihn immer von neuem finden wollen. - Erst, wenn Ihre Vorstellung von Ihm - gereinigt von Gestalt und Form und jeglichem Begriff von Aussen und Innen, Schöpfer und Geschöpf, Geist und Stoff, ist, werden Sie Ihn-"

"Sehen?"

"Nein Niemals. Aber mit seinen Augen werden Sie sich sehen. Dann sind Sie frei von der Erde, denn Ihr Leben ist in Seines eingegangen und Ihr Bewusstsein ist nicht mehr vom Leibe abhängig, der wie ein wesenloser Schatten dem Grab entgegen geht."

"Welchen Zweck haben aber die Schläge des äusseren Lebens, von denen Sie sprechen? Sind sie eine Prüfung oder eine Strafe?"

"Es gibt weder Prüfungen noch Strafen. Das äussere Leben mit seinen Schicksalen ist nichts als ein Heiligungsprozess, für den einen mehr, für den anderen weniger schmerzhaft, je nachdem der Betreffende krank ist an seiner Erkenntnis."

"Und Sie glauben, wenn ich Gott rufe , wie Sie sagen, wird sich mein Schicksal verändern?"

Sofort! Nur wird es sich nicht "verändern", es wird werden wie ein galoppierendes Pferd, das bis dahin im Schritt gegangen ist."

"Ist Ihr Schicksal denn so im Sturm abgelaufen? Sie verzeihen die Frage, aber nach dem, was ich über Sie gehört habe-"

"Ist es sehr eintönig dahingeflossen meinen Sie, Mejufrouw," ergänzte Swammerdam lächelnd." Erinnern sie sich, was ich Ihnen vorhin gesagt habe?: " Blicken Sie nie auf andere,' - Der eine erlebt eine Welt, und dem anderen erscheint's wie eine Nussschale. Wenn Sie im Ernst wollen, dass Ihr Schicksal galoppiert, müssen Sie - ich warne Sie davor und rate es Ihnen zugleich, denn es ist das einzige, was der Mensch tun soll, und gleichzeitig das schwerste Opfer, das er bringen kann! - müssen Sie Ihren innersten Wesenskern, den Wesenskern, ohne den Sie eine Leiche wären, (und sogar nicht einmal das), anrufen und Ihm - befehlen, dass Er Sie den kürzesten Weg zu dem grossen Ziel führt,- dem einzigen, das des Erstrebens wert ist, so wenig Sie es jetzt auch erkennen, - erbarmungslos, ohne Rast, durch Krankheit, Leiden, Tod und Schlaf hindurch, durch Ehren, Reichtum und Freude hindurch, immer hindurch und hindurch wie ein rasendes Pferd, das einen Wagen vorwärts reisst über Äcker und Steine hinweg und an Blumen und blühenden Hainen vorbei!  Das nenne ich: Gott rufen. Es muss sein wie ein Gelöbnis vor einem lauschenden Ohr!" 

"Aber, wenn dann das Schicksal kommt, Meister, und ich werde schwach und - will umkehren?"

"Umkehren kann nur der auf dem geistigen Weg, - nein, nicht einmal umkehren, nur stehen bleiben, sich umsehen und zur Salzsäule werden, - der kein Gelöbnis abgelegt hat! Ein Gelöbnis in geistigen Dingen ist wie ein Befehl, und Gott ist der - Diener des Menschen in diesem Falle, um ihn auszuführen. Entsetzen Sie sich nicht Mejufrouw, es ist keine Lästerung! Im Gegenteil! - Darum (was ich Ihnen jetzt sage ist eine Torheit, ich weiss, denn es geschieht nur aus Mitleid, und alles, was aus Mitleid geschieht, ist Torheit), warne ich Sie: geloben Sie nicht zu viel! Es könnte Ihnen sonst gehen wie dem Schächer, dem am Kreuz die Knochen gebrochen wurden!"

Swammerdams Gesicht war weiss geworden vor innerer Erregung.

Eva fasste seine Hand. "Ich danke Ihnen Meister, ich weiss jetzt, was ich zu tun habe."

Der alte Mann zog sie an sich und küsste sie ergriffen auf die Stirn, " Der Herr des Schicksals sei Ihnen ein barmherziger Arzt, mein Kind!"