Dr. med. Friedrich Schwab



Die Symbolik in der religiösen Bildersprache

Aller Religionsgeschichten, Mythologien und Sagen haben außer ihrer historischen Bedeutung noch eine ungemein höhere, die über alle irdische Sprache erhaben ist. Man kann diese deshalb nur bis zu einem gewissen Grade erklären. Hauptsächlich beziehen sich diese Symbole auf Gleichnisse auf das herabsteigen des Geistes in die Materie, auf kosmische oder universelle Vorgänge, sowie auf das Freiwerden des Geistes im Menschenherzen, auf den Weg des Menschen zur Unsterblichkeit.

 

Dass diesen Geschichten und Erzählungen eine geschichtliche Wahrheit zu Grunde liegen kann, braucht deshalb nicht abgestritten zu werden, aber offenbar wurden diese Begebenheiten um ihres hohen Gehalt willen aufgezeichnet, symbolisiert und ausgeschmückt. Höhere Wahrheiten mussten zu früheren Zeiten sehr gehütet werden; erstes wegen des damals allgemein herrschenden fanatischen Geistes; zweitens um höhere Geheimnisse vor Unverstande und der Selbstsucht zu verbergen; drittens weil die damalige Sprache keine große Umschreibung erlaubte, und viertens weil der Abstand von Wissenschaft und Religion ein zu großer war. Diese Lehren wurden deshalb in einer Weise verfasst, dass Ihre äußere wörtliche Bedeutung der großen Masse als Richtschnur und Anhaltspunkt diente, während die innere symbolische Bedeutung nur für diejenigen war, die die nötige Erkenntnis und Reife dazu hatten.

 

Betrachten wir die Religionsschriften in diesem höheren Lichte, so finden wir die größten Schätze darin verborgen, indes die äußerliche Auffassung eines Symbols nur die innerliche verhindert. Die meisten religiösen Symbole aller Völker beziehen sich auf die Fleischwerdung Gottes,d.h. die Verkörperung und Offenbarung des Geistes in der Materie. Im Makrokosmos, in der großen Welt fand diese Verkörperung des Universalgeistes beim Beginn der Weltschöpfung statt. Aber dieser Vorgang findet im Kleinen bei jedem einzelnen Menschen statt, so oft es sich auf Erden verkörpert. Diese Tatsache wiederholt sich so oft, bis der göttliche Geist im Menschen zum Selbstbewusstsein gekommen ist.

 

Die Symbole sind außerdem auch Darstellungen der Vorgänge im Seelenleben eines jeden Menschen, der den Wege einschlägt, der zum Sieg über das Vergängliche, zur Herrschaft über das Selbst und zur Freiheit von persönlichem Selbst und zur Geburt des Gottes in ihm führt. Solche Menschen hat es zu allen Zeiten gegeben und dieser erhabene Vorgang im Menschen wurde deshalb zu allen Zeiten bei allen Völkern symbolisiert. So sind z.B. die religiösen Gleichnisse im neuen Testament der Bibel auch bei anderen Völkern lange vor der christlichen Zeitrechnung in ähnlicher Weise zu finden. Überall wird eine übernatürliche Geburt eines Gottmenschen geschildert.

 

Von Buddha wird folgendes erzählt: Die Mutter Buddhas hiess Maya-devi; sie war schön wie die Wasserlilie und ihre Seele so rein wie die Lotusblüte. Gleich einer Himmelskönigin lebte sie auf Erden unbefleckt und fehlerlos. Ihr Gemahl war ein König, aber er ehrte ihre Heiligkeit. Da stieg der Geist der Wahrheit auf sie herab und sie gebar ein Kind, strahlend und vollkommen wie die aufgehende Sonne. Es war Buddha; himmlische Musik ertönte in der Luft und die Engel jubelten freudvoll.

 

Die in den uralten Schriften der Ägypter enthalten Erzählungen von Osiris gleicht ebenfalls derjenigen von Jesus von Nazareth. Osiris, der grösste Gott in Ägypten war der Sohn des himmlischen Feuers und der Urmaterie. Er wird als ein Heiland und Befreier der Menschheit beschrieben. Er kommt als Wohltäter unter die Menschen, um sie von ihren Mühsalen und Gebrechen zu befreien. Aber seine Bestrebungen, Gutes zu tun, werden mit Bösem vergolten. Er wird überwältigt, getötet und begraben. Aber nach drei Tagen steht er wieder auf und fährt in den Himmel.

 

Und nun kommen wir zur Symbolik der Bibel. Die Geschichte Jesu mag wohl auf Wahrheit beruhen, ist es doch eine augenfällige Sache, dass ein Erleuchteter, ein Gottmensch gewöhnlich missverstanden wird und ein Opfer des Unverstandes und der Verachtung werden kann. Wer aber diese Geschichte auf das innere Seelenleben des Menschen anzuwenden versuchen wollte, der würde erst die grosse Erhabenheit und Weisheit wahrnehmen, die darin verborgen liegt. Die übernatürliche Geburt des Gottessohnes deutet hin auf die Geburt des göttlichen Bewusstseins im reinen Gemüte des Menschen, denn dies ist wie eine bewegte See, in der sich der Mond spiegelt. Durch die Wellenbewegung wird nur ein verzerrtes Bild erzeugt. Erst in einem solchen Moment, wo die Fläche glatt und ruhig wie ein Spiegel geworden, gibt sie das Bild in seiner wahren Gestalt wieder. Erst wenn das Gemüt des Menschen rein und jungfräulich geworden, kann in ihm die übernatürliche Geburt der Göttlichkeit stattfinden, dies Ereignis ist aber über jeden Begriff so erhaben, dass sich derjenige, der es nicht selbst erlebt, nur eine schwache Vorstellung davon machen kann und es klingt wie eine Entheiligung, wenn man versuchen will, diese Symbole zu erklären. Die Geburt oder das Erwachen des Gottesbewusstseins im Menschen ist tatsächlich eine Geburt, zu deren Vergleich alle anderen Geburten nur Scheingeburten sind. Alle äusseren Vorgänge im Weltall, im Kleinen sowohl im Grossen, als auch im äusseren Leben des Menschen sind nur Gleichnisse und Abbilder von Vorgängen im Reiche des Geistes, im Reiche des Ewigen. Vom vergänglichen Standpunkt aus betrachtet, erscheint die phänomenale Welt als Tatsache, deren Vorgänger der Mensch zur Beschreibung geistiger Dinge symbolisch benützt. Aber vom Standpunkt des Wirklichen, des Ewigen aus betrachtet, erkennen wir, dass das Reich der Ideen die Wirklichkeit, der Grund und das Erste und Ursprüngliche ist und die sichtbare Welt nur die symbolische Wiedergabe derselben. Und so ist die Sprache in Symbolen die wirkliche Sprache, die Geistessprache, die sprache, von Gott „eingesetzt.“

 

Also alle äusseren Vorgänge in der Natur: die Bahnen der Planeten um ihre Sonne, die periodische Wiederkehr usw., Anfang und Ende, Sommer und Winter, Tag und Nacht, Geburt und Tod, die Anordnung von Mass, Zahl, Gewicht, Farbe und Ton, das äussere Leben und Treiben in der Natur, alles sind nur vergängliche Abbilder von unvergänglichen Ideen und Gesetzen. Und so ist für den Eingeweihten die ganze Natur eine wunderbare verborgene Sprache der Gottheit. In Naturereignissen sieht er unveränderliche Gesetze des geistigen Lebens reflektiert. Ja, jedes einzelne Wesen ist ein Symbol, ein Buchstabe in dieser Sprache. Und so auch umgekehrt ist es einem Mystiker, der die Gesetzte des Geistes erkennt, ein leichtes, das Objekt Weltall zu erforschen; er braucht nicht mit einem Fernrohre oder Mikroskopie in die Welt hinauszuspekulieren, den er findet alles in sich selbst, im Reiche des Geistes. Aber alles irdische ist ja nur ein Gleichnis.

So ist auch die Symbolik in den religiösen Geheimschriften von einem höheren Standpunkt aus ganz naturgemäß, berechtigt und obligatorisch. Die irdische Geburt ist auch nur ein Abbild  eines Vorganges auf der geistigen Ebene und keine wirkliche Geburt, sondern nur ein Wechsel des persönlichen Bewusstseins. Aber die geistige Geburt ist erst das Erwachen zum wahren Leben. Es ist die Geburt des Lichtes der Gotteserkenntnis in Menschenherzen, und ein Mystiker des Mittelalters, Angelus Silesius sagt:

„Ich muss Maria sein und Gott in mir gebären,

Soll er mir ewiglich die Seligkeit gewähren.“

 

ferner sagt er:

 

„Ist Christus tausendmal zu Bethlehem geboren

Und nicht in dir, so bleibst du doch verloren.“

 

Wenn man die Geschichte Jesu auf jeden Menschen anwendet, so ist unter Jesus unser eigenes, wahres, unvergängliches Selbst zu verstehen. Und der Weg des Kreuzes, denn jeder wandeln muss, ist der Weg durchs irdische Dasein. Maria, Jesus, Pilatus u.s.w. sind alle in einem Menschen zu finden. Wird in dem reinen Gemüt des Menschen oder Maria, das Christuskind, das Licht der Wahrheit geboren, so geschieht dies in einem Stalle, woselbst Tiere anwesend sind. Es sind die niederen Triebe des Menschen, die tierischen Instinkte, die in seinem Organismus, dem Stall, zuhause sind. Aber die Tiere Schweigen dies Mal, denn Sie ahnen, welch großer Herr unter ihnen weilt. Aber Herodes, der Selbstwahn im Menschen, der regierende Fürst ist es, welcher das göttliche Ideal nicht aufkommen lassen will,  und tief im Innern des Herzens, in Ägypten, bleibt die höhere Stimme verborgen, bis der König seiner Mordlust abgestorben ist. Wenn in einem Menschen einmal das Licht der Wahrheit erwacht ist, ist es unausrottbar. Aber die niedere Persönlichkeit ist der herrschende König, der sich selbst zum Ideal hat und das Göttliche im Herzen nicht aufkommen lassen will. Aber die höhere Erkenntnis lässt sich nicht töten, sondern kommt beim günstigen Moment wieder, wird dann schließlich stärker und nimmt zu an Macht, die Sie auf den ganzen Menschen, insbesondere im Reiche seiner Neigungen ausübt. Aber schließlich wird Sie, die Wahrheit, doch wieder verdunkelt, von persönlichen, irdischen Gewalten umstrickt, und vor den Richterstuhl des Verstandes gebracht. Pilatus, als der zergliedernde irdische Verstand, die Logik, mag die Wahrheit nicht zu erkennen, selbst wenn sie vor ihm steht. Die Wahrheit oder Gott kann nicht zergliedert werden, sie steht über aller Logik und Schlussfolgerung. Und alle Logik und Umschreibung könnte nur eine Karikatur der absoluten Wahrheit geben.

 

Die Wahrheit oder Christus hat deshalb keine Antwort auf die Frage, was sie sei; denn sie ist nichts anderes, als sie selbst. Die Wahrheit muss direkt erkannt werden, so wie man das Licht erkennt. Für einen Blinden hat alle Beschreibung des Lichtes keinen Wert, er kann es nicht fassen. Die Wahrheitserkenntnis oder Gotteserkenntnis kann uns nur dadurch zuteil werden, indem sie in uns erwacht.

 

Der Mensch kann nichts anders dabei tun, als die Hindernisse hinweg räumen. Das Volk oder die Juden stellen die niederen intellektuellen Seelenkräfte des Menschen dar, die Jesum, unser wahres Selbst verhöhnen, indem sie durch ihr Geschrei die Stimme der Wahrheit übertönen.

 

Die Kriegsknechte sind die Leidenschaften, die den gefesselten Gottmenschen geißeln. „Simon von Cirene“ ist die Hoffnung, dass Gottvertrauen und hilft das Kreuz des Leidens tragen. Und so wird der Gottmensch in uns, der in Wirklichkeit frei und ewige ist, an das Kreuz, an den das Kreuz bildenden irdischen Körper gefesselt. Bei den Indern wird er an die „Swastika“, auf ein Rad gefesselt, das sich immer drehende Rad des Lebens. Aber die drei Nägel, mit denen die Seele gefesselt ist, sind das verkehrte fühlen, Denken und Wollen des Menschen, durch die er sich selber an das irdische Dasein nagelt.

 

Die Auferstehung zur Freiheit aus dem Zwang der Wiederverkörperung, das bewusst werden der Unsterblichkeit kann aber erst stattfinden, wenn der Schwere Stein des Irrtums und der Selbstsucht vor dem Grabe des Gottessohnes in uns hinweg gerollt ist. Dies geschieht aber erst nach drei Tagen. Es sind die drei Tage der Zeit: Vergangenheit Gegenwart und Zukunft. Über diesen drei Tagen und unabhängig davon ist das Ewige. Erst wenn sich der Mensch vom vergänglichen zum Ewigen in ihm erhebt, wird der über das Bewusstsein des zeitlichen erhaben und die Auferstehung kann stattfinden.

 

Das Licht der göttlichen Selbsterkenntnis ist über alles Grübeln und Denken erhaben, darauf weisen auch die vier Buchstaben hin, die über dem Kreuze stehen.J.N.RJ. Jesus von Nazareth, König der Juden. Esoterische betrachtet, heißt dies nicht anderes als: die göttliche Weisheit ist Herr niederen Seelenkräfte. In einer anderen Hinsicht bedeuten die vier Buchstaben:“In Nobis Regnat Jesus“,d.h. In uns regiert Jesus oder der Gottmensch.

 

Ein Mystiker Meister Eckhart sagt:“ die Bibel ist wie ein Meer, das immer tiefer wird, je weiter man hineingeht. Wer aber ganz darin untertaucht, der findet kostbare Schätze, die auf dem Grund desselben verborgen sind.“ Alle hier erwähnten Andeutungen haben den innersten Sinne dieser symbolischen Erzählungen keineswegs ganz ausgelegt. Auch ist der Zweck religiöser Symbole und Gleichnisse gar nicht der, dass Sie äußerlich gedeutet werden, sondern der Zweck ist, dass jeder einzelne selbst darüber nachdenkt, sich in die geistigen Geheimnisse, die darin verborgen sind, vertieft, und in sich selber den Schlüssel zur Erklärung findet. Wer aber diesen Schlüssel gefunden hat, der erkennt die verborgene Weisheit der mystischen Schriften aller Zeiten und Nationen. Er findet dieselbe Wahrheit, nicht nur in den alten Veden der Inder, in dem Totenbuche der Ägypter, im chinesischen Tao-The-King, in der christlichen Bibel, im Zend-Avesta der Perser und in den goldenen Lehren des Pythagoras, sondern auch in den Werken Goethes, in Rückerts „Weisheit der Brahmanen“ im Dantes „göttlicher Komödie“, in Richard Wagners Opern u.s.w. sowie in den Sagen und Märchen des Ostens und Westens.

 

Aber immer gab es Menschen, die die Symbole ganz verkehrt auffassten. Zu welchem Missverständnisse und Torheiten dies geführt hat, beweist die Kirchengeschichte alter und neuer Zeit. Zu dem Schlimmsten gehört die Witwenverbrennung in Indien, die auf der verkehrten Auslegungen gewisser Schriften beruht. Es heißt da: „Der Mann und das Weib sollen sich im Feuer vereinigen und den Zustand höchster Glückseligkeit erlangen.“ Die Menschen glaubten nun, wenn der Mann gestorben sei, so musst die Frau mit verbrannt werden, und führten dies auch aus. Esoterisch betrachtet, bedeutet dies aber etwas ganz anderes. Das männliche Prinzip in jedem Menschen ist der Gedanke. Das weibliche Prinzip ist in jedem Menschen der Wille. Das Feuer in jedem Menschen ist die geist-göttliche Energie oder Alliebe. Wenn der Mensch danach strebt, den höchsten Zustand des Bewusstseins, die Vereinigung mit seinem höheren Selbst zu erlangen, dann müssen sich seine Gedanken und sein Gemüt im Feuer der allumfassenden göttlichen Liebe vereinigen und diese Übungen nennt man Meditation. Dabei muss also Kopf und Herz vereinigt werden. Lässt der Schüler das Gemüt alleine spielen, dann verfällt er der Schwärmerei oder Mediumschaft, lässt er dem Gedanken allein herrschen, dann kann er nicht Eindringen in das Gebiet einer höheren Erkenntnis und Glückseligkeit und verfällt der schwarzen Magie.

 

Auch die Azteken verstanden die Stimme des Göttlichen nicht, die zu ihnen sprach: „Opfert mir die Herzen“ (d.h. macht euere Herzen der Herrschaft des göttlichen Lichtes untertan), sondern sie rissen Ihren Kriegsgefangenen die Herzen bei lebendigem Leibe aus, um sie ihrem unverstandenen Gott als blutige Opfer zu bringen. – Wie viel Unheil wäre erspart geblieben, wenn die Anhänger des Islam, die Vorschrift: “ Töte meine Feinde“ im wahren Sinn aufgefasst hätten, als den Koran mit Feuer und Schwert zu verbreiten. Aber auch heute noch kommen derartige Missverständnisse und Torheiten vor, immer noch werden die Symbole und Erzählungen in den heiligen Schriften äußerlich und der Selbstsucht gemäss ausgelegt, um über aber jeder selbst weiter nachdenken mag. Nur eines sei hier noch erwähnt: Das Sterben im Christo. Dies bedeutet den Zustand von Shamadi oder die geistige Wiedergeburt. Es ist das Aufgehen des persönlichen Bewusstseins in das göttliche Allbewusstsein, in welchen Zustande auf Momente alles Persönliche ausgerottet wird, wo selbst der Mensch seine eigene Form als etwas unwesentliches, als einen Schatten erkennt.

 

Diese sterben muss aber bei Lebzeiten schon erlernt werden; wer damit wartet, bis er am Totenbette liegt, der kommt zu spät. – Dieser Tod bei Lebzeiten wird der mystische Tod genannt und damit findet die Auferstehung des Gottmenschen in uns statt. Das Bewusstsein umfasst dann nicht mehr das persönliche Selbst, sondern das ganze Weltall. Wer aber schließlich ganz mit der Weltseele eins geworden ist, der ist der geoffenbarte Gottmensch selber, im indischen Mahatma genannt,d.h. auf deutsch“ Grosse Seele“. Denn seine Seele umfasst nicht mehr die beschränkte Form, sondern das Ganze. In der Vereinigung mit unserem höheren Ich liegt eine unbeschreibliche Wonne. Es ist ersteres nämlich die Fähigkeit, das eigene Bewusstsein mit demjenigen anderer Wesen zu verschmelzen. Es ist jene göttliche Seligkeit, wonach jedes Geschöpf unbewusst strebt, es aber nicht erreichen kann, weil es sich selbst nicht verlässt.

 

Der Mensch sucht sich mit dem, was er liebt zu vereinigen. Aber infolge seines Verlangens nach Sondersein kann ihm dies nie gelingen. Wie sehr sich das Herz auch mit Lieben vereint, nie wird es ganz zur Ruhe kommen. Nie wird es ganz in  dem Gegenstand seiner Liebe aufgehen können, solange es nur die Form, das unwesentliche im Auge hat. Dies scheint auch der Dichter Hamerling empfunden zu haben als er folgende Verse schuf:

 

 

 

Einsam ist die Menschenseele:

Ob wir Herz an Herz auch drücken,

klafft doch immer eine Tiefkluft,

Die wir niemals überbrücken;

Nichts kann ganz der andere werden.

Jeder folgt dem eig´nen Triebe,

Und ein Traumbild bleibt die Sehnsucht,

Und ein schöner Wahn der Liebe.

 

Aber diese Kluft wird nur durch den Sonderwillen des Menschen erschaffen. Die Geschöpfe gleichen Weltkörpern, die sich umkreisen. Ewig ziehen Sie sich an, und ewig halten sie sich auch voneinander fern. Nie wird die Ruhe und endgültige Befriedigung hergestellt. Planeten werden periodisch von der Sonne angezogen und wenden sich wieder von ihr ab. Auf jede Aktion folgt eine Reaktion. Wenn aber, wie man sagt, nach Ablauf großer Zeiträume die Planeten in die Sonne fliegen, dann werden sie nicht vernichtet, sondern werden selbst zur Sonne. Dies hier sei nur ein Beispiel. Denn genau so ist es nämlich mit der Seele. Wenn die Seele Ihren Sonderwillen aufgibt, die sie von Anderen trennt, dann wird sie nicht vernichtet, sondern wird identisch mit der Geistsonne, die in allen Menschen wohnt. Den Sonderwillen aufgeben, heißt nicht „willenlos“ werden, sondern dem Willen mit dem Allwillen vereinigen, das Bewusstsein erweitern. Die Seele erkennt und fühlt sich dann selbst in anderen und dann wird sie die ewige Ruhe, das Ziel der Liebe gefunden; es ist das Empfinden der ewigen göttlichen Liebe, die über alles erhaben ist. Die menschliche Seele hat also Flügel, womit sie in die Sonne des Geistes fliegen kann und diese Flügel sind nicht die geistige Erkenntnis und der geistige Wille. Die geflügelte Seele wird symbolisiert durch einen geflügelten Kreis.

 

Alle Begierde, Egoismus, Sinnlichkeit, Genusssucht sind nichts anderes als Irrtum. Alles trachten nach Besitz, nach Vereinigung, nach Ruhe, sei es nun gut oder böse, ist im Grunde genommen nichts anderes als die ewige Sehnsucht nach dieser göttlichen Verschmelzung des Bewusstseins, welche die Quintessenz aller Befriedigung ist.

 

Aber der nicht Erkennende sucht diese Ruhe im Äußeren, im Unwesentlichen, wo er sie nie endgültig finden kann, und je größer das Verlangen wird, desto mehr sinkt er. Aber es ist nur Irrtum.

 

Mancher geniale Mensch führt infolge dieses Irrtums ein lasterhaftes Leben. Er hat diesen Drang nach Vereinigung und Ruhe vielleicht stärker als andere Menschen, versteht ihn aber nicht. Er erkennt noch nicht, dass er sich selbst aufgeben muss, wenn Er ganz das andere werden will, wenn er mit dem Leben aller Dinge eins werden will. Und nun verstehen wir auch die Worte Goethes:

 

Lange habe ich mich gesträubt.

Endlich gab ich nach,

Wenn der alte Mensch zertäubt

Wird der neue wach;

Und solange du dies nicht fass´st

Dieses Stirb und Werde,

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

 

 

Damit ist also nichts anderes gemeint, als das Sterben im Christo. Christus oder der Logos ist die Universalseele, die Gottheit in der Menschheit. Dass Sie in jedem Menschen wohnt, so ist sie auch das höhere, wahre Selbst eines jeden Menschen. Und wenn der Mensch Gott erkennen will, so braucht er nur in Wahrheit sein Höheres Selbst zu erkennen und so ist die wahre Selbsterkenntnis des Menschen zugleich die Gotteserkenntnis der Theosophie. Es gibt also zwei Arten der Selbsterkenntnis. Die eine ist die Erkenntnis seiner Persönlichkeit oder Maske, deren Fehler und Schwächen; die andere ist aber die Erkenntnis des Gottes im Menschen und ist sehr schwer zu erlangen. Der erste Schritt dazu ist der, dass der Mensch lernt, das Dauernde vom Vergänglichen zu unterscheiden; nämlich, dass er sein wechselvolles Ich, das nie feststeht, nicht mehr zum Abgott macht. (Um die Vollkommenheit zu erreichen, muss man zuerst einsehen, dass das, was man bisher war, nur unvollkommen war.)

(In memoriam F Schwab
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