Aller Religionsgeschichten, Mythologien und Sagen haben außer ihrer
historischen Bedeutung noch eine ungemein höhere, die über alle irdische
Sprache erhaben ist. Man kann diese deshalb nur bis zu einem gewissen Grade
erklären. Hauptsächlich beziehen sich diese Symbole auf Gleichnisse auf das
herabsteigen des Geistes in die Materie, auf kosmische oder universelle
Vorgänge, sowie auf das Freiwerden des Geistes im Menschenherzen, auf den
Weg des Menschen zur Unsterblichkeit.
Dass diesen Geschichten und Erzählungen eine geschichtliche Wahrheit zu
Grunde liegen kann, braucht deshalb nicht abgestritten zu werden, aber
offenbar wurden diese Begebenheiten um ihres hohen Gehalt willen
aufgezeichnet, symbolisiert und ausgeschmückt. Höhere Wahrheiten mussten zu
früheren Zeiten sehr gehütet werden; erstes wegen des damals allgemein
herrschenden fanatischen Geistes; zweitens um höhere Geheimnisse vor
Unverstande und der Selbstsucht zu verbergen; drittens weil die damalige
Sprache keine große Umschreibung erlaubte, und viertens weil der Abstand von
Wissenschaft und Religion ein zu großer war. Diese Lehren wurden deshalb in
einer Weise verfasst, dass Ihre äußere wörtliche Bedeutung der großen Masse
als Richtschnur und Anhaltspunkt diente, während die innere symbolische
Bedeutung nur für diejenigen war, die die nötige Erkenntnis und Reife dazu
hatten.
Betrachten wir die Religionsschriften in diesem höheren Lichte, so finden
wir die größten Schätze darin verborgen, indes die äußerliche Auffassung
eines Symbols nur die innerliche verhindert. Die meisten religiösen Symbole
aller Völker beziehen sich auf die Fleischwerdung Gottes,d.h. die
Verkörperung und Offenbarung des Geistes in der Materie. Im Makrokosmos, in
der großen Welt fand diese Verkörperung des Universalgeistes beim Beginn der
Weltschöpfung statt. Aber dieser Vorgang findet im Kleinen bei jedem
einzelnen Menschen statt, so oft es sich auf Erden verkörpert. Diese
Tatsache wiederholt sich so oft, bis der göttliche Geist im Menschen zum
Selbstbewusstsein gekommen ist.
Die Symbole sind außerdem auch Darstellungen der Vorgänge im Seelenleben
eines jeden Menschen, der den Wege einschlägt, der zum Sieg über das
Vergängliche, zur Herrschaft über das Selbst und zur Freiheit von
persönlichem Selbst und zur Geburt des Gottes in ihm führt. Solche Menschen
hat es zu allen Zeiten gegeben und dieser erhabene Vorgang im Menschen wurde
deshalb zu allen Zeiten bei allen Völkern symbolisiert. So sind z.B. die
religiösen Gleichnisse im neuen Testament der Bibel auch bei anderen Völkern
lange vor der christlichen Zeitrechnung in ähnlicher Weise zu finden.
Überall wird eine übernatürliche Geburt eines Gottmenschen geschildert.
Von Buddha wird folgendes erzählt: Die Mutter Buddhas hiess Maya-devi; sie
war schön wie die Wasserlilie und ihre Seele so rein wie die Lotusblüte.
Gleich einer Himmelskönigin lebte sie auf Erden unbefleckt und fehlerlos.
Ihr Gemahl war ein König, aber er ehrte ihre Heiligkeit. Da stieg der Geist
der Wahrheit auf sie herab und sie gebar ein Kind, strahlend und vollkommen
wie die aufgehende Sonne. Es war Buddha; himmlische Musik ertönte in der
Luft und die Engel jubelten freudvoll.
Die in den uralten Schriften der Ägypter enthalten Erzählungen von Osiris
gleicht ebenfalls derjenigen von Jesus von Nazareth. Osiris, der grösste
Gott in Ägypten war der Sohn des himmlischen Feuers und der Urmaterie. Er
wird als ein Heiland und Befreier der Menschheit beschrieben. Er kommt als
Wohltäter unter die Menschen, um sie von ihren Mühsalen und Gebrechen zu
befreien. Aber seine Bestrebungen, Gutes zu tun, werden mit Bösem vergolten.
Er wird überwältigt, getötet und begraben. Aber nach drei Tagen steht er
wieder auf und fährt in den Himmel.
Und nun kommen wir zur Symbolik der Bibel. Die Geschichte Jesu mag wohl auf
Wahrheit beruhen, ist es doch eine augenfällige Sache, dass ein
Erleuchteter, ein Gottmensch gewöhnlich missverstanden wird und ein Opfer
des Unverstandes und der Verachtung werden kann. Wer aber diese Geschichte
auf das innere Seelenleben des Menschen anzuwenden versuchen wollte, der
würde erst die grosse Erhabenheit und Weisheit wahrnehmen, die darin
verborgen liegt. Die übernatürliche Geburt des Gottessohnes deutet hin auf
die Geburt des göttlichen Bewusstseins im reinen Gemüte des Menschen, denn
dies ist wie eine bewegte See, in der sich der Mond spiegelt. Durch die
Wellenbewegung wird nur ein verzerrtes Bild erzeugt. Erst in einem solchen
Moment, wo die Fläche glatt und ruhig wie ein Spiegel geworden, gibt sie das
Bild in seiner wahren Gestalt wieder. Erst wenn das Gemüt des Menschen rein
und jungfräulich geworden, kann in ihm die übernatürliche Geburt der
Göttlichkeit stattfinden, dies Ereignis ist aber über jeden Begriff so
erhaben, dass sich derjenige, der es nicht selbst erlebt, nur eine schwache
Vorstellung davon machen kann und es klingt wie eine Entheiligung, wenn man
versuchen will, diese Symbole zu erklären. Die Geburt oder das Erwachen des
Gottesbewusstseins im Menschen ist tatsächlich eine Geburt, zu deren
Vergleich alle anderen Geburten nur Scheingeburten sind. Alle äusseren
Vorgänge im Weltall, im Kleinen sowohl im Grossen, als auch im äusseren
Leben des Menschen sind nur Gleichnisse und Abbilder von Vorgängen im Reiche
des Geistes, im Reiche des Ewigen. Vom vergänglichen Standpunkt aus
betrachtet, erscheint die phänomenale Welt als Tatsache, deren Vorgänger der
Mensch zur Beschreibung geistiger Dinge symbolisch benützt. Aber vom
Standpunkt des Wirklichen, des Ewigen aus betrachtet, erkennen wir, dass das
Reich der Ideen die Wirklichkeit, der Grund und das Erste und Ursprüngliche
ist und die sichtbare Welt nur die symbolische Wiedergabe derselben. Und so
ist die Sprache in Symbolen die wirkliche Sprache, die Geistessprache, die
sprache, von Gott „eingesetzt.“
Also alle äusseren Vorgänge in der Natur: die Bahnen der Planeten um ihre
Sonne, die periodische Wiederkehr usw., Anfang und Ende, Sommer und Winter,
Tag und Nacht, Geburt und Tod, die Anordnung von Mass, Zahl, Gewicht, Farbe
und Ton, das äussere Leben und Treiben in der Natur, alles sind nur
vergängliche Abbilder von unvergänglichen Ideen und Gesetzen. Und so ist für
den Eingeweihten die ganze Natur eine wunderbare verborgene Sprache der
Gottheit. In Naturereignissen sieht er unveränderliche Gesetze des geistigen
Lebens reflektiert. Ja, jedes einzelne Wesen ist ein Symbol, ein Buchstabe
in dieser Sprache. Und so auch umgekehrt ist es einem Mystiker, der die
Gesetzte des Geistes erkennt, ein leichtes, das Objekt Weltall zu
erforschen; er braucht nicht mit einem Fernrohre oder Mikroskopie in die
Welt hinauszuspekulieren, den er findet alles in sich selbst, im Reiche des
Geistes. Aber alles irdische ist ja nur ein Gleichnis.
So ist auch die Symbolik in den religiösen Geheimschriften von einem höheren
Standpunkt aus ganz naturgemäß, berechtigt und obligatorisch. Die irdische
Geburt ist auch nur ein Abbild eines
Vorganges auf der geistigen Ebene und keine wirkliche Geburt, sondern nur
ein Wechsel des persönlichen Bewusstseins. Aber die geistige Geburt ist erst
das Erwachen zum wahren Leben. Es ist die Geburt des Lichtes der
Gotteserkenntnis in Menschenherzen, und ein Mystiker des Mittelalters,
Angelus Silesius sagt:
„Ich muss Maria sein und Gott in mir gebären,
Soll er mir ewiglich die Seligkeit gewähren.“
ferner sagt er:
„Ist Christus tausendmal zu Bethlehem geboren
Und nicht in dir, so bleibst du doch verloren.“
Wenn man die Geschichte Jesu auf jeden Menschen
anwendet, so ist unter Jesus unser eigenes, wahres, unvergängliches Selbst
zu verstehen. Und der Weg des Kreuzes, denn jeder wandeln muss, ist der Weg
durchs irdische Dasein. Maria, Jesus, Pilatus u.s.w. sind alle in einem
Menschen zu finden. Wird in dem reinen Gemüt des Menschen oder Maria, das
Christuskind, das Licht der Wahrheit geboren, so geschieht dies in einem
Stalle, woselbst Tiere anwesend sind. Es sind die niederen Triebe des
Menschen, die tierischen Instinkte, die in seinem Organismus, dem Stall,
zuhause sind. Aber die Tiere Schweigen dies Mal, denn Sie ahnen, welch
großer Herr unter ihnen weilt. Aber Herodes, der Selbstwahn im Menschen, der
regierende Fürst ist es, welcher das göttliche Ideal nicht aufkommen lassen
will, und tief im Innern des
Herzens, in Ägypten, bleibt die höhere Stimme verborgen, bis der König
seiner Mordlust abgestorben ist. Wenn in einem Menschen einmal das Licht der
Wahrheit erwacht ist, ist es unausrottbar. Aber die niedere Persönlichkeit
ist der herrschende König, der sich selbst zum Ideal hat und das Göttliche
im Herzen nicht aufkommen lassen will. Aber die höhere Erkenntnis lässt sich
nicht töten, sondern kommt beim günstigen Moment wieder, wird dann
schließlich stärker und nimmt zu an Macht, die Sie auf den ganzen Menschen,
insbesondere im Reiche seiner Neigungen ausübt. Aber schließlich wird Sie,
die Wahrheit, doch wieder verdunkelt, von persönlichen, irdischen Gewalten
umstrickt, und vor den Richterstuhl des Verstandes gebracht. Pilatus, als
der zergliedernde irdische Verstand, die Logik, mag die Wahrheit nicht zu
erkennen, selbst wenn sie vor ihm steht. Die Wahrheit oder Gott kann nicht
zergliedert werden, sie steht über aller Logik und Schlussfolgerung. Und
alle Logik und Umschreibung könnte nur eine Karikatur der absoluten Wahrheit
geben.
Die Wahrheit oder Christus hat deshalb keine Antwort auf die Frage, was sie
sei; denn sie ist nichts anderes, als sie selbst. Die Wahrheit muss direkt
erkannt werden, so wie man das Licht erkennt. Für einen Blinden hat alle
Beschreibung des Lichtes keinen Wert, er kann es nicht fassen. Die
Wahrheitserkenntnis oder Gotteserkenntnis kann uns nur dadurch zuteil
werden, indem sie in uns erwacht.
Der Mensch kann nichts anders dabei tun, als die Hindernisse hinweg räumen.
Das Volk oder die Juden stellen die niederen intellektuellen Seelenkräfte
des Menschen dar, die Jesum, unser wahres Selbst verhöhnen, indem sie durch
ihr Geschrei die Stimme der Wahrheit übertönen.
Die Kriegsknechte sind die Leidenschaften, die den gefesselten Gottmenschen
geißeln. „Simon von Cirene“ ist die Hoffnung, dass Gottvertrauen und hilft
das Kreuz des Leidens tragen. Und so wird der Gottmensch in uns, der in
Wirklichkeit frei und ewige ist, an das Kreuz, an den das Kreuz bildenden
irdischen Körper gefesselt. Bei den Indern wird er an die „Swastika“, auf
ein Rad gefesselt, das sich immer drehende Rad des Lebens. Aber die drei
Nägel, mit denen die Seele gefesselt ist, sind das verkehrte fühlen, Denken
und Wollen des Menschen, durch die er sich selber an das irdische Dasein
nagelt.
Die Auferstehung zur Freiheit aus dem Zwang der Wiederverkörperung, das
bewusst werden der Unsterblichkeit kann aber erst stattfinden, wenn der
Schwere Stein des Irrtums und der Selbstsucht vor dem Grabe des Gottessohnes
in uns hinweg gerollt ist. Dies geschieht aber erst nach drei Tagen. Es sind
die drei Tage der Zeit: Vergangenheit Gegenwart und Zukunft. Über diesen
drei Tagen und unabhängig davon ist das Ewige. Erst wenn sich der Mensch vom
vergänglichen zum Ewigen in ihm erhebt, wird der über das Bewusstsein des
zeitlichen erhaben und die Auferstehung kann stattfinden.
Das Licht der göttlichen Selbsterkenntnis ist über alles Grübeln und Denken
erhaben, darauf weisen auch die vier Buchstaben hin, die über dem Kreuze
stehen.J.N.RJ. Jesus von Nazareth, König der Juden. Esoterische betrachtet,
heißt dies nicht anderes als: die göttliche Weisheit ist Herr niederen
Seelenkräfte. In einer anderen Hinsicht bedeuten die vier Buchstaben:“In
Nobis Regnat Jesus“,d.h. In uns regiert Jesus oder der Gottmensch.
Ein Mystiker Meister Eckhart sagt:“ die Bibel ist wie ein Meer, das immer
tiefer wird, je weiter man hineingeht. Wer aber ganz darin untertaucht, der
findet kostbare Schätze, die auf dem Grund desselben verborgen sind.“ Alle
hier erwähnten Andeutungen haben den innersten Sinne dieser symbolischen
Erzählungen keineswegs ganz ausgelegt. Auch ist der Zweck religiöser Symbole
und Gleichnisse gar nicht der, dass Sie äußerlich gedeutet werden, sondern
der Zweck ist, dass jeder einzelne selbst darüber nachdenkt, sich in die
geistigen Geheimnisse, die darin verborgen sind, vertieft, und in sich
selber den Schlüssel zur Erklärung findet. Wer aber diesen Schlüssel
gefunden hat, der erkennt die verborgene Weisheit der mystischen Schriften
aller Zeiten und Nationen. Er findet dieselbe Wahrheit, nicht nur in den
alten Veden der Inder, in dem Totenbuche der Ägypter, im chinesischen
Tao-The-King, in der christlichen Bibel, im Zend-Avesta der Perser und in
den goldenen Lehren des Pythagoras, sondern auch in den Werken Goethes, in
Rückerts „Weisheit der Brahmanen“ im Dantes „göttlicher Komödie“, in Richard
Wagners Opern u.s.w. sowie in den Sagen und Märchen des Ostens und Westens.
Aber immer gab es Menschen, die die Symbole ganz verkehrt auffassten. Zu
welchem Missverständnisse und Torheiten dies geführt hat, beweist die
Kirchengeschichte alter und neuer Zeit. Zu dem Schlimmsten gehört die
Witwenverbrennung in Indien, die auf der verkehrten Auslegungen gewisser
Schriften beruht. Es heißt da: „Der Mann und das Weib sollen sich im Feuer
vereinigen und den Zustand höchster Glückseligkeit erlangen.“ Die Menschen
glaubten nun, wenn der Mann gestorben sei, so musst die Frau mit verbrannt
werden, und führten dies auch aus. Esoterisch betrachtet, bedeutet dies aber
etwas ganz anderes. Das männliche Prinzip in jedem Menschen ist der Gedanke.
Das weibliche Prinzip ist in jedem Menschen der Wille. Das Feuer in jedem
Menschen ist die geist-göttliche Energie oder Alliebe. Wenn der Mensch
danach strebt, den höchsten Zustand des Bewusstseins, die Vereinigung mit
seinem höheren Selbst zu erlangen, dann müssen sich seine Gedanken und sein
Gemüt im Feuer der allumfassenden göttlichen Liebe vereinigen und diese
Übungen nennt man Meditation. Dabei muss also Kopf und Herz vereinigt
werden. Lässt der Schüler das Gemüt alleine spielen, dann verfällt er der
Schwärmerei oder Mediumschaft, lässt er dem Gedanken allein herrschen, dann
kann er nicht Eindringen in das Gebiet einer höheren Erkenntnis und
Glückseligkeit und verfällt der schwarzen Magie.
Auch die Azteken verstanden die Stimme des Göttlichen nicht, die zu ihnen
sprach: „Opfert mir die Herzen“ (d.h. macht euere Herzen der Herrschaft des
göttlichen Lichtes untertan), sondern sie rissen Ihren Kriegsgefangenen die
Herzen bei lebendigem Leibe aus, um sie ihrem unverstandenen Gott als
blutige Opfer zu bringen. – Wie viel Unheil wäre erspart geblieben, wenn die
Anhänger des Islam, die Vorschrift: “ Töte meine Feinde“ im wahren Sinn
aufgefasst hätten, als den Koran mit Feuer und Schwert zu verbreiten. Aber
auch heute noch kommen derartige Missverständnisse und Torheiten vor, immer
noch werden die Symbole und Erzählungen in den heiligen Schriften äußerlich
und der Selbstsucht gemäss ausgelegt, um über aber jeder selbst weiter
nachdenken mag. Nur eines sei hier noch erwähnt: Das Sterben im Christo.
Dies bedeutet den Zustand von Shamadi oder die geistige Wiedergeburt. Es ist
das Aufgehen des persönlichen Bewusstseins in das göttliche Allbewusstsein,
in welchen Zustande auf Momente alles Persönliche ausgerottet wird, wo
selbst der Mensch seine eigene Form als etwas unwesentliches, als einen
Schatten erkennt.
Diese sterben muss aber bei Lebzeiten schon erlernt werden; wer damit
wartet, bis er am Totenbette liegt, der kommt zu spät. – Dieser Tod bei
Lebzeiten wird der mystische Tod genannt und damit findet die Auferstehung
des Gottmenschen in uns statt. Das Bewusstsein umfasst dann nicht mehr das
persönliche Selbst, sondern das ganze Weltall. Wer aber schließlich ganz mit
der Weltseele eins geworden ist, der ist der geoffenbarte Gottmensch selber,
im indischen Mahatma genannt,d.h. auf deutsch“ Grosse Seele“. Denn seine
Seele umfasst nicht mehr die beschränkte Form, sondern das Ganze. In der
Vereinigung mit unserem höheren Ich liegt eine unbeschreibliche Wonne. Es
ist ersteres nämlich die Fähigkeit, das eigene Bewusstsein mit demjenigen
anderer Wesen zu verschmelzen. Es ist jene göttliche Seligkeit, wonach jedes
Geschöpf unbewusst strebt, es aber nicht erreichen kann, weil es sich selbst
nicht verlässt.
Der Mensch sucht sich mit dem, was er liebt zu vereinigen. Aber infolge
seines Verlangens nach Sondersein kann ihm dies nie gelingen. Wie sehr sich
das Herz auch mit Lieben vereint, nie wird es ganz zur Ruhe kommen. Nie wird
es ganz in dem Gegenstand seiner
Liebe aufgehen können, solange es nur die Form, das unwesentliche im Auge
hat. Dies scheint auch der Dichter Hamerling empfunden zu haben als er
folgende Verse schuf:
Einsam ist die Menschenseele:
Ob wir Herz an Herz auch drücken,
klafft doch immer eine Tiefkluft,
Die wir niemals überbrücken;
Nichts kann ganz der andere werden.
Jeder folgt dem eig´nen Triebe,
Und ein Traumbild bleibt die Sehnsucht,
Und ein schöner Wahn der Liebe.
Aber diese Kluft wird nur durch den Sonderwillen des Menschen erschaffen.
Die Geschöpfe gleichen Weltkörpern, die sich umkreisen. Ewig ziehen Sie sich
an, und ewig halten sie sich auch voneinander fern. Nie wird die Ruhe und
endgültige Befriedigung hergestellt. Planeten werden periodisch von der
Sonne angezogen und wenden sich wieder von ihr ab. Auf jede Aktion folgt
eine Reaktion. Wenn aber, wie man sagt, nach Ablauf großer Zeiträume die
Planeten in die Sonne fliegen, dann werden sie nicht vernichtet, sondern
werden selbst zur Sonne. Dies hier sei nur ein Beispiel. Denn genau so ist
es nämlich mit der Seele. Wenn die Seele Ihren Sonderwillen aufgibt, die sie
von Anderen trennt, dann wird sie nicht vernichtet, sondern wird identisch
mit der Geistsonne, die in allen Menschen wohnt. Den Sonderwillen aufgeben,
heißt nicht „willenlos“ werden, sondern dem Willen mit dem Allwillen
vereinigen, das Bewusstsein erweitern. Die Seele erkennt und fühlt sich dann
selbst in anderen und dann wird sie die ewige Ruhe, das Ziel der Liebe
gefunden; es ist das Empfinden der ewigen göttlichen Liebe, die über alles
erhaben ist. Die menschliche Seele hat also Flügel, womit sie in die Sonne
des Geistes fliegen kann und diese Flügel sind nicht die geistige Erkenntnis
und der geistige Wille. Die geflügelte Seele wird symbolisiert durch einen
geflügelten Kreis.
Alle Begierde, Egoismus, Sinnlichkeit, Genusssucht sind nichts anderes als
Irrtum. Alles trachten nach Besitz, nach Vereinigung, nach Ruhe, sei es nun
gut oder böse, ist im Grunde genommen nichts anderes als die ewige Sehnsucht
nach dieser göttlichen Verschmelzung des Bewusstseins, welche die
Quintessenz aller Befriedigung ist.
Aber der nicht Erkennende sucht diese Ruhe im Äußeren, im Unwesentlichen, wo
er sie nie endgültig finden kann, und je größer das Verlangen wird, desto
mehr sinkt er. Aber es ist nur Irrtum.
Mancher geniale Mensch führt infolge dieses Irrtums ein lasterhaftes Leben.
Er hat diesen Drang nach Vereinigung und Ruhe vielleicht stärker als andere
Menschen, versteht ihn aber nicht. Er erkennt noch nicht, dass er sich
selbst aufgeben muss, wenn Er ganz das andere werden will, wenn er mit dem
Leben aller Dinge eins werden will. Und nun verstehen wir auch die Worte
Goethes:
Lange habe ich mich gesträubt.
Endlich gab ich nach,
Wenn der alte Mensch zertäubt
Wird der neue wach;
Und solange du dies nicht fass´st
Dieses Stirb und Werde,
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Damit ist also nichts anderes gemeint, als das Sterben im Christo. Christus
oder der Logos ist die Universalseele, die Gottheit in der Menschheit. Dass
Sie in jedem Menschen wohnt, so ist sie auch das höhere, wahre Selbst eines
jeden Menschen. Und wenn der Mensch Gott erkennen will, so braucht er nur in
Wahrheit sein Höheres Selbst zu erkennen und so ist die wahre
Selbsterkenntnis des Menschen zugleich die Gotteserkenntnis der Theosophie.
Es gibt also zwei Arten der Selbsterkenntnis. Die eine ist die Erkenntnis
seiner Persönlichkeit oder Maske, deren Fehler und Schwächen; die andere ist
aber die Erkenntnis des Gottes im Menschen und ist sehr schwer zu erlangen.
Der erste Schritt dazu ist der, dass der Mensch lernt, das Dauernde vom
Vergänglichen zu unterscheiden; nämlich, dass er sein wechselvolles Ich, das
nie feststeht, nicht mehr zum Abgott macht. (Um die Vollkommenheit zu
erreichen, muss man zuerst einsehen, dass das, was man bisher war, nur
unvollkommen war.)